Freitag, 29. März 2024

Archiv

Susan Hawthorne: "Bibliodiversität"
Vielfalt statt Monokultur des Denkens

Kleine Verlage neben großen, Spezialinteressen neben Mainstream, kulturell vielfältig: So stellt sich Susan Hawthorne einen funktionierenden Büchermarkt vor. Und liefert mit "Bibliodiversität" ein leidenschaftliches Plädoyer gegen eine Konzernwelt, die alles Fremde, Andersartige aussortiert und glattbügelt.

Von Nils Kahlefendt | 24.11.2017
    Bücherreihen, fotografiert am 17.02.2015 in einer Buchhandlung in Potsdam (Brandenburg).
    In "Bibliodiversität" beklagt Susan Hawthorne das Schwinden kultureller Vielfalt auf dem Büchermarkt durch die Konzentration in Großverlagen und Buchhandlungsketten (dpa / picture-alliance / Ralf Hirschberger)
    Susan Hawthorne ist auf einer Farm im Buschland von New South Wales in Australien aufgewachsen. Als sie Anfang der 90er-Jahre die handtuchgroßen Felder einer Frauen-Kooperative in Bangladesh besuchte, fiel ihr der Unterschied zur extensiv betriebenen australischen Agrarwirtschaft sofort ins Auge. Und ja: Ein wenig erinnerte, was sie da sah, an die eigene Verlagsarbeit.
    "Wenn Sie viel Land haben, können Sie damit alles Mögliche anstellen. Verfügen Sie aber nur über eine kleine Parzelle, müssen Sie sehr sorgfältig darüber nachdenken, was Sie anbauen und wie Sie die Dinge in der Balance halten. Der Begriff "Biodiversität" beschreibt ein dynamisches Gleichgewicht in einem Ökosystem. In ähnlicher Weise ist "Bibliodiversität" der Versuch, kulturelle Vielfalt herzustellen, Kulturen wirklich gedeihen zu lassen. Sie werden, so wie die Landwirtschaft, auch von lokalen Bedingungen geprägt."
    Kulturelle Vielfalt statt Monokultur
    Das Wort "Bibliodiversität", erstmals in den frühen 1990er-Jahren von chilenischen Verlegern aufgebracht, ist inspiriert vom strukturell verwandten Begriff der "Biodiversität". Wie diese unverzichtbar für das gesunde Funktionieren eines Ökosystems ist, wird Bibliodiversität als Indikator für einen funktionierenden Buchmarkt betrachtet. Der Begriff umschreibt ein verlegerisches Konzept, dass sich von der bestsellergetriebenen Produktion der großen Konzerne unterscheidet: die Herstellung kultureller Vielfalt unter besonderer Berücksichtigung vermeintlich "kleiner" Literaturen, ökologisches Bewusstsein, die Überwindung des Nord-Süd-Gefälles, Sensibilität für Gender und Hautfarbe.
    Wenn Hawthorne das Schwinden kultureller Vielfalt durch die Konzentration in Großverlagen und Buchhandlungsketten beklagt, nimmt sie ein Wort der indischen Globalisierungs-Kritikerin Vandana Shiva auf, die von "Monokulturen des Geistes" spricht.
    "In diesem Sinne glaube ich, dass genau das eines der großen Probleme der multinationalen Verlagskonzerne ist: Sie haben sich auf eine Monokultur des Denkens zubewegt. In gewisser Weise verlassen sie sich sogar auf die neuen Ideen kleinerer Verlage. Das ist wie in der natürlichen Umwelt, wo man sich der 'wilden Sorten' bemächtigt und sie ins agrarwirtschaftliche System einbringt, das so am Laufen gehalten wird. Das Problem ist: Die Monokulturen dominieren und marginalisieren den Output - und nach einer Weile hört sich alles gleich an."
    Big Player können die Kleinen niedertrampeln
    Kein Wunder, dass der Online-Riese Amazon in Hawthornes’ Rundumschlag einer Pharma-Krake gleicht, einer Art Monsanto der Buchindustrie. Zu Recht betont die Autorin, dass Originalität und Kreativität stets an den Rändern entstehen. Doch ist das Bild einer Konzernwelt, die alles Fremde, Andersartige aussortiert und glattbügelt, die "Buch-Linien" wie Dessous-Linien auf den Markt wirft, nicht zu simpel?
    "Es ist vereinfacht. Natürlich gibt es in den großen Verlagen die "kleinen Widerständler" (lacht), die meisten von ihnen in den Lektoraten. Normalerweise müsste sich ein Verleger oder Lektor aber doch fragen: Auf welche Weise unterscheidet sich dieses Buch von allem, was bisher veröffentlicht worden ist? Das zeichnet gute Verleger ja aus: Sie wollen Bücher herausbringen, die neu sind, die etwas Interessantes zu sagen haben. Die Verkaufsabteilung folgt eher einer Formel, die auf dem letzten Megaerfolg aufbaut."
    Das digitale Publizieren eröffnet neue Möglichkeiten für kulturelle Diversität. Der leichtere Zugang zu technischen Ressourcen und neuen Distributionswegen ist jedoch nur eine Seite der Medaille.
    "Auf der anderen Seite fürchtet sich ein Teil von mir vor der Rekolonisierung des Marktes durch die großen Player. Die Spannung zwischen den Großen und den Kleinen existiert immer, und natürlich nutzen beide Seiten ihre Chancen. Die Kleinen können dabei wie das Gras sein, das sich zwischen dem Beton ausbreitet. Die Big Player haben immer wieder die Möglichkeit, dieses zarte Pflänzchen niederzutrampeln."
    Verglichen mit dem australischen Buchmarkt, auf den sich Hawthornes’ Analysen stützen, geht es unabhängigen Verlagen und Buchhandlungen hierzulande - VG-Wort-Urteil hin, Urheberrechtsgesetzgebung her - noch recht gut. Ein Umstand, den das kluge Nachwort der Übersetzerin Doris Herrmanns nicht verschweigt. Um Verlagsvielfalt und Buchhandlungsdichte, die Buchpreisbindung und Institutionen wie die Kurt-Wolff-Stiftung oder den Indiebookday dürfte man uns down under beneiden.
    Lyrik aus Verkaufsgründen vernachlässigt
    Aber Hand aufs Herz: Wie viel Raum geben wir dem Wilden und Unangepassten in den Komfortzonen des Kulturbetriebs wirklich? "Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution" - so zitiert Hawthorne, die sich auch einen Namen als Lyrikerin gemacht hat, die feministische Aktivistin Emma Goldmann. Und wandelt den Satz für sich ab: "Wenn Gedichte nicht länger veröffentlicht werden, will ich nicht länger Teil dieser Branche sein."
    "Die großen Verlage, jedenfalls die in der englischsprachigen Welt, haben sich weitgehend von Lyrik verabschiedet. Sie verkauft sich einfach nicht gut genug. Dennoch ist sie wichtig für das Überleben von kulturellem Wissen. Die dauerhaftesten Texte sind Gedichte; denken Sie an Homers Verse oder die orale Tradition der indigenen Bevölkerung in Australien - so wurde unser Wissen von Generation zu Generation weitergegeben. Lyrik ist viel leichter zu erinnern als ein Absatz Prosa."
    Leidenschaftliches Plädoyer, doch was genau wäre zu tun?
    Susan Hawthornes aus jahrzehntelanger Verlagserfahrung gespeistes und mit Verve verfasstes Manifest stellt mehr Fragen, als Antworten zu geben. Wie all das, was abseits des Mainstreams gedacht und geschrieben wird, tatsächlich Leserinnen und Leser finden kann, verrät es nicht. Doch es verweist auf die Wandelbarkeit der Verhältnisse, es schärft unseren Blick für die Gefahren, die einer monolithischen, nur noch ökonomischem Kalkül folgenden Buchlandschaft drohen. Lesenswert ist das schmale Buch vor allem als leidenschaftliches Plädoyer für die Lordsiegelbewahrer kultureller Vielfalt - all die kleinen, unabhängigen Verlage, die wie seltene Pflanzen leuchten und neue Farben und Gerüche in die Welt bringen.