Donnerstag, 25. April 2024

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Susanne Mayer Deutschland armes Kinderland.

Zu Weihnachten, dem Fest der Familie, gab es wieder viele Benefizkonzerte für Kinder und Kranke und viele Filme mit anrührenden Szenen aus dem traditionellen Familienleben mit Kindern. Sie muten an wie eine ferne Erinnerung. Denn dieses Land scheint - wenn man Autoren und Wissenschaftlern glauben will, die sich mit der Gesellschaftspolitik befassen - nicht nur kinderfeindlich, sondern vor allem familienfeindlich geworden zu sein, oder doch zumindest kinder- und familiengleichgültig. Ist das der Bumerang des Individualismus? Oder gilt die Gleichgültigkeit nur für die veröffentliche Meinung, nicht aber für die öffentliche? Jedenfalls stoßen Bücher, die das Los von Familie beschreiben und verbessern wollen, auf großes Interesse - nicht nur an Weihnachten - und erleben eine erstaunliche Zahl von Auflagen. Das dürfte auch für das Buch der alleinstehenden Mutter und Redakteurin der 'ZEIT’, Susanne Mayer, gelten, die für eine neue Familienkultur plädiert. Sie lehnt sich auf gegen die Zukunftsblindheit in Politik und Gesellschaft. Deutschland armes Kinderland heißt ihr Werk. Kostas Petropulos hat es für uns gelesen:

Kostas Petropulos | 30.12.2002
    Heute leben in Deutschland über sechs Millionen Kinder weniger als noch vor 3o Jahren. In den Metropolen wie Berlin und Hamburg sind ganze Stadtteile praktisch kinderfreie Zonen. Diese Entwicklung ist auf den ersten Blick erstaunlich. Immerhin erklärt immer noch die übergroße Mehrheit der jungen Menschen, sich zwei Kinder zu wünschen. Tatsächlich entscheiden sie sich schließlich aber nur für 1,4 Kinder. Für die Hamburger Journalistin Susanne Mayer ist dieser eklatante Widerspruch zwischen Kinderwunsch und Kinderwirklichkeit nicht verwunderlich. Aus ihrer Sicht, die sie in ihrem neuen Buch Deutschland armes Kinderland ausbreitet, ist unsere Welt auf geradezu 'abenteuerliche Weise’ auf das Zusammenleben mit Kinern nicht vorbereitet. Wer sich nämlich für Kinder entscheidet, macht Erfahrungen, die ihn über kurz oder lang fragen lassen:

    Wieso man sich als Irrläufer fühlt, nur weil man diesem inneren Drängen nach Kindern nachgegeben hat, wieso es in der Arbeitswelt, die uns und unseren Kindern doch zur Ernährung dienen soll, geradezu als unverantwortlich gilt, den Betrieb durch die Kinderfrage zu stören, warum man zum Schmuddelkind der Wohlstandsgesellschaft wird, förderungsbedürftig und angeblich hochsubventioniert, nur weil man Kinder hat.

    Das Buch der alleinerziehenden Mutter zweier Söhne gibt viele, nicht immer streng systematisch zusammengestellte Antworten. Antworten allerdings, die nicht nur sehr bedenkenswert sind, sondern in ihrer Breite weit über die bisherige familienpolitische Debatte hinausgehen. Susanne Mayer stützt sich dabei nicht nur auf die einschlägige Forschungsliteratur; sie reichert ihre Bestandsaufnahme darüber hinaus mit zahlreichen Beobachtungen und Erfahrungen aus ihrem teilweise turbulenten Alltag an.

    Wer über die Misere der Familien hierzulande nachdenkt, kommt am Thema 'Geld’ nicht vorbei. Natürlich. Es sind ganz selbstverständlich die Ressourcen an Zeit und Geld, die entscheiden: Darüber, ob Eltern den anspruchsvollen Alltag mit ihren Kindern erfolgreich bewältigen oder aus chronischer Überforderung immer vom Scheitern bedroht sind. Darüber, ob Familie als Lebensform attraktiv genug ist, um junge Menschen dafür zu gewinnen. Beim Geld, daran gibt es für Susanne Mayer keinen Zweifel, sind die Familien schon längst abgehängt worden. Dabei zitiert sie die bekannten und gerade von der Politik immer wieder gern verdrängten Fakten.

    Geradezu empört reagiert die alleinerziehende Journalistin auf ein besonders von der rotgrünen Bundesregierung verbreitetes Vorurteil. Nämlich die Behauptung, Familien seien nur deshalb arm, weil sie nicht genug arbeiten würden. Tatsächlich sei das Gegenteil der Fall. Eltern seien materiell oft deklassiert, weil sie Familienarbeit leisten würden - und zwar unbezahlt! Zugleich würden sie damit ihre Beschäftigungs- und Karrierechancen bei vielen Arbeitgebern drastisch verschlechtern. Ganz im Gegensatz etwa zu Lehrern:

    "Wer Kinder im Auftrage des Staates erzieht, in Schulen, hat die besten Arbeitsverträge, die in dieser Republik, ja in der Welt überhaupt, zu haben sind - hohe Entlohnung bei minimaler Präsenzpflicht, üppigste Freizeitregelung und Unkündbarkeit, privilegierte Absicherung bei Krankheit und Alter, alles Superkonditionen - ganz im Gegenteil zu den Eltern, die für Betreuung und Erziehung derselben Kinder zuständig sind, vor und nach den Schulstunden, jeden Tag für alle restlichen 19 Stunden, die nach Schulschluss noch übrig sind, und das, ohne auch nur einen halben Rentenanspruch zu erwerben.

    Eltern und ihre Kinder, so rechnet Susanne Mayer überzeugend vor, seien unterm Strich kein Kostenfaktor für die Finanzminister, die Kinderlosen oder die Wirtschaft, sondern - umgekehrt - die reinsten Geldmaschinen für die Gesellschaft.

    Aber Susanne Mayer redet nicht nur vom Geld, das unser Gemeinwesen den Familien gegen jede Vernunft nicht in ausreichendem Maße beläßt beziehungsweise zur Verfügung stellt. Höchst anschaulich schildert sie zudem, wie zutiefst kinder- und elternfeindlich wir mittlerweile zentrale Lebensbereiche unseres Alltagslebens organisiert haben - und das mehrheitlich nicht einmal mehr zur Kenntnis nehmen.

    Beispiel Wohnen: Unsere Modernen Städte seien zwar verkehrs- und konsumgerecht, aber kaum noch Lebensraum für Menschen, insbesondere nicht für Kinder. Sie bräuchten von Erwachsenen nicht kontrollierte Erlebniszonen, um Erfahrungen aus erster Hand zu machen. Nur so könnten sie ihre Umwelt entdecken und ihre schlummernden Fähigkeiten entfalten. - Tatsächlich leben die Kinder in den Städten ständig in der Gefahr, verletzt oder getötet zu werden:

    Über 12.ooo Kinder werden als Fußgänger jedes Jahr in unseren Kommunen angefahren, die Hälfte von ihnen beim Spielen. Weitere 3o Prozent, weil parkende Wagen und andere Sichthindernisse es unmöglich machen, die kleinen Mitbürger zu sehen. Und die einzige Konsequenz, die wir daraus ziehen, scheint zu sein, die Kinder nicht mehr vor die Tür zu lassen, sie überall hinzukarren, zum Freund, zum Schwimmen, zum Fußball - was wiederum die Gefahr für andere Kinder erhöht, sich zu Fuß dorthin zu bewegen.

    Das Spielen und die Freizeitgestaltung der Kinder finde deshalb überwiegend nur noch in Reservaten, eingezäunten Räumen statt, die Bewegung und Wahrnehmung beengen. Diese Einschränkung der Erfahrungsräume schlage letztlich auf die Bildungsfähigkeit der Kinder durch. Denn wer wenig erlebt, hat wenig zu erzählen und wird so seine sprachlichen Fähigkeiten kaum richtig entfalten. Genau die Fähigkeiten, bei denen deutsche Schüler in der PISA-Bildungsvergleichsstudie nur mäßig abgeschnitten haben. Die gedankenlose Kinderfeindlichkeit unserer Städte schadet nicht nur den Kindern, sondern erhöht ebenfalls die alltäglichen Belastung für Eltern enorm. Sie müssen dafür sorgen, dass ihre Kinder sicher in den Kindergarten oder die Schule kommen, oder dass sie ihre Freunde zum Spielen besuchen können. - Die Belastung der Eltern werde zudem durch Einrichtungen gesteigert, die eigentlich als Entlastung der Familien gedacht sein sollten - nämlich die Kindergärten und Schulen. - Am schlimmsten seien die nachgewiesenen Mängel des ganz normalen Schulunterrichts:

    Mehr als jeder dritte Schüler an Haupt-, Realschulen und Gymnasien erhielt 1999 Nachhilfe - bezahlte oder unbezahlte, wie man denn die familiär geleistete Nachhilfe so nennt, ohne sich klar zu machen, was sie kostet, an Geld, Nerven, guter Stimmung. Befragt man Eltern nach den Gründen für diesen Extraservice, nennen immerhin ein Drittel dieser Eltern 'didaktische Defizite von Lehrern’. Was von Eltern verlangt wird, ist nicht nur Geistesarbeit, Schulaufgabenhilfe, Betreuung von Arbeitsgruppen, Assistenz bei der Anfertigung von Arbeitspapieren oder Interpretationshilfe bei Vorlagen vonseiten der Schule, die nicht immer ganz verständlich sind. (...) Nicht zu vergessen das Motivationstraining, wenn demotivierte Lehrer einen so langweiligen Unterricht runterreißen, dass er alle Geister erlahmen lässt.

    Die Liste der systematischen Behinderung und Diskriminierung des Zusammenlebens mit Kindern in unserem Land ist ellenlang. Natürlich listet Susanne Mayer die von Fachleuten längst erdachten Verbesserungsvorschläge auf oder verweist auf ermutigende Beispiele im In- und Ausland. Am Ende ihres Buches liefert sie sogar eine ganz praktische Argumentationshilfe für Eltern. Aber: Die Politik stelle sich weiterhin taub. Sie könne es auch, weil außer der Minderheitengruppe 'Eltern’ kaum jemand Druck mache. Wieso bleibt dieser Druck immer noch aus, obwohl das demographische Desaster unseres Landes vorprogrammiert ist und die Entwicklungsdefizite der heutigen Kinder und Jugendlichen unübersehbar sind?

    Sicher spielt die allgemeine Bereitschaft eine große Rolle, im Zweifelsfall die Rechte der Kinder und Eltern den angeblichen wirtschaftlichen Sachzwängen unterzuordnen. Deshalb hat der Auto- und LKW-Verkehr in den Städten Vorrang. Deshalb darf die Wirtschaft Kinder und Jugendliche mit Werbung bombardieren, weil ihre Produkte ja Arbeitsplätze schaffen.

    Aber das reicht nicht als Erklärung. Die Trägerin des Journalistinnenpreises der feministischen Frauenzeitschrift 'EMMA’ gibt den Frauen selbst eine große Mitschuld an diesem Zustand. Gerade kinderlose Frauen würden in der öffentlichen Meinungsbildung immer wieder mit einer unerträglichen Intoleranz gegenüber Müttern hervortreten. Aber es sind natürlich nicht nur die Frauen, die Familien keine große Hilfe sind. Es ist genauso die um sich greifende Entfremdung zwischen Alt und Jung, aber vor allem zwischen Eltern und Nicht-Eltern:

    Die Kinderlosen sind nicht kinderfeindlich, wirklich nicht, aber sie bieten doch mit Nachdruck darum, man möge den Zweijährigen wenigstens bitten, er solle gehen, sie sagen dies im Ton von: Ein bisschen Erziehung muss schon sein, ihr dämlichen Eltern. Gehen! Es gibt kein zweijähriges Gehen, aber wie sollte das jemand begreifen, der keine Zweijährigen kennt? So zerstreiten sich Hausgemeinschaften, die doch mal alle und eigentlich immer noch der Meinung sind, dass Alt und Jung, Familien und Singles schön bunt miteinander zusammenwohnen sollten."

    Der verpflichtende Charakter des Lebens mit Kindern, der Eltern über Jahrzehnte hinweg prägt, ist für Kinderlose nicht nachvollziehbar. Bei ihnen stehen so genannte postmaterielle Werte im Vordergrund: Persönliche Selbstentfaltung oder selbstgewählte, aber jederzeit kündbare Freundschaften. Eltern und Nicht-Eltern leben so immer mehr in unterschiedlichen Welten und verlieren dabei an gemeinsamen Erfahrungen. Es zerbröselt der Kitt, der Gesellschaften zusammenhält. Woher soll da der Antrieb für einen neuen Gesellschaftsvertrag kommen, der Kinder und ihre Eltern wieder in die Mitte unsere Gesellschaft holt?

    Susanne Mayer macht sich da nichts vor. Es wird kaum die Überzeugungskraft ihrer facettenreich geschilderten Alternative zur grassierenden Familienfeindlichkeit sein. Letztlich wird es die äußerst schmerzhafte Erfahrung der Ego-Gesellschaft sein, dass wir auf diesem Weg alle in der Sackgasse landen. Die Autorin wörtlich:

    Die soziale Ordnung, das gesellschaftliche Gefüge, die Wirtschaft, die politische Landschaft, unsere Demokratie - alles kommt ins Rutschen, wenn es nicht gelingt, diese Gesellschaft so zu modernisieren, dass Menschen mit ihren Kindern finden, dass hier gut leben ist.

    Das war eine Rezension von Kostas Petropulos zu dem Buch von Susanne Mayer: Deutschland armes Kinderland, erschienen im Eichborn-Verlag in Frankfurt am Main. Es hat 268 Seiten und kostet 17 Euro neunzig.