Donnerstag, 18. April 2024

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Sutter versus Hertwig
Nudging: Darf der Staat uns erziehen?

Energie sparen, fürs Alter vorsorgen, sich gesünder ernähren: Bürger sollen per sogenanntem Nudging zu besserem Verhalten bewegt werden - ohne Verbote, Gebote oder ökonomische Anreize. Auch Kanzlerin Merkel will sich die Strategien aus der Verhaltensforschung zunutze machen. Hilfreiche "Stubser" - oder Gängelei?

Matthias Sutter und Ralph Hertwig im Gespräch mit Manfred Götzke | 16.09.2017
    Der Zeigefinger eines Politikers
    Wie viel Einfluss soll der Staat auf das Verhalten seiner Bürger ausüben? (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Darf der Staat uns erziehen? - In der "Streitkultur" tauschen Matthias Sutter und Ralph Hertwig über diese Frage ihre Argumente aus. Ihre Positionen:
    "Eine attraktive Alternative zu immer mehr Gesetzen und Vorschriften"
    Matthias Sutter, Wirtschaftsforscher an der Universität zu Köln
    Im Grunde erzieht uns der Staat von klein auf, in den Schul- und Betreuungseinrichtungen. Es ist also nichts Neues, wenn der Staat jetzt auch durch verhaltensökonomische Instrumente Einfluss auf menschliches Verhalten nehmen will. Das läuft unter dem Stichwort Nudging und beschreibt Situationen, in denen der Staat durch eine Veränderung der Entscheidungsumgebung menschliches Verhalten beeinflussen will. Das ist dann legitim, wenn die Ziele des Staates klar sind und auch gegenüber der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden können. Wenn beispielsweise im Straßenverkehr durch blinkende Smileys AutofahrerInnen darauf hingewiesen werden, ob sie zu schnell oder vorschriftsmäßig fahren, dann wird das Ziel verfolgt, den Straßenverkehr sicherer zu machen. Dabei wird menschliches Verhalten beeinflusst, weil der Mensch auf blinkende Signale meist reagiert. Es gibt viele solcher Beispiele, die aus staatlicher Sicht zu einem sicheren und geordneten Umgang miteinander beitragen sollen. In diesem Sinne ist staatliche Erziehung durch Nudging eine attraktive Alternative zu immer mehr Gesetzen und Vorschriften.
    "Die menschlichen Schwächen gezielt ausnutzen"
    Ralph Hertwig, Psychologe am Berliner Max Planck Institut für Bildungsforschung, ist der Ansicht:
    Das Nudging-Konzept berücksichtigt nur einen selektiven Ausschnitt der empirischen Evidenz zu den Entscheidungskompetenzen der Bürger und basiert daher auf einem einseitigen Menschenbild. Den Nudging-Befürwortern zufolge verhält sich jeder Mensch ein Stück weit wie die amerikanische Comic-Figur Homer Simpson: Menschliche Schwächen, Entscheidungsdefizite und "mentale Illusionen", die zu Abweichungen von rationalen Entscheidungen führen und suboptimale Ergebnisse nach sich ziehen, würden als Normalfall unterstellt und nicht als Ausnahme. Der brillante und innovative Gehalt von Nudging ist, die menschlichen Schwächen gezielt auszunutzen, um den Bürgern zu helfen, bessere Entscheidungen zu treffen. "Man schlägt Homer Simpson mit seinen eigenen Waffen."