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Sven Regener: "Wiener Straße"
Poetik absichtsvoller Anspruchslosigkeit

Zwischen der Kneipe "Einfall" und der "ArschArt Galerie" versammelt Sven Regener erneut seine Romanfamilie aus "Herr Lehmann". Er erzählt vom Lebensgefühl des einstigen Kreuzberg, dem geteilten Berlin der 80er-Jahre.

Von Maike Albath | 22.10.2017
    Buchcover: Seven Regener: "Wiener Straße"
    Buchcover: Seven Regener: "Wiener Straße" (Cover: Galiani-Verlag / Foto: dpa/Horst Galuschka)
    Ein bisschen ist es so, als käme man nach Hause. Nach Hause in eine dieser verwinkelten WGs in Kreuzberg, wo sich in der Küche das schmutzige Geschirr stapelt, der Kühlschrank meistens leer ist und man nie genau weiß, wer jetzt eigentlich alles zu den Mitbewohnern gehört. Schon in den ersten Sätzen von Sven Regeners neuem Roman Wiener Straße macht sich ein wohliges Zeitmaschinengefühl breit. Berlin ist noch geteilt, die Häuserzeilen sind grau, die Wohnungen billig, in der Luft liegt der typische Geruch von Kohleheizung. Dass man sich als Leser sofort gemütlich in diesem Roman einrichtet, liegt natürlich auch an Sven Regeners Helden.
    "Die Tür fiel zu, und es war zappenduster. Erwin stellte den Werkzeugkasten ab, den er für die Pfeifen mitgebracht hatte, denn das waren sie, Pfeifen, wie bin ich hier nur reingeraten, fragte er sich schon den ganzen Tag immer wieder laut, aber weder Karl Schmidt noch Frank Lehmann, der offensichtlich Karl Schmidts neuer Lieblingskumpel war, noch H.R. und schon gar nicht Chrissie, seine beknackte Nichte, hatten sich auch nur angesprochen oder sonst wie kompetent gefühlt, mal irgendwas darauf zu antworten; er wollte ja hoffen, dass sie sich nur wegen eines schlechten Gewissens zurückhielten, aber machte sich keine Illusionen, sie waren einfach zu stumpf, waren davon ausgegangen, dass er irgendwas ganz anderes meinte, Westberlin als solches oder Kreuzberg oder das Gastrogeschäft oder die gerade begonnenen Achtzigerjahre, den scheiß Baumarkt, weil der Baumarkt ja auf der Neuköllner Seite der Hasenheidenstraße lag, dabei war es natürlich die Gesellschaft mit ihnen, den Pfeifen, die sie nun einmal waren, gewesen, die er gemeint hatte, als er wieder und wieder "Wie bin ich hier nur reingeraten?!!" ausgerufen hatte, zuletzt im Baumarkt, als sie mit zwei Einkaufswagen voller Renovierungsscheiß an der Kasse gestanden und sich herausgestellt hatte, dass er der Einzige war, der überhaupt Geld oder jedenfalls Euroschecks dabei hatte."
    Strebsames Schwabentum unter einer Schicht von Missgelauntheit
    Da sind sie wieder, die altgedienten und wohlvertrauten Sven-Regener-Gestalten, die seit dem legendären Erstling "Herr Lehmann" von 2001 zum literarischen Personal Berlins gehören, genauso wie Franz Biberkopf von Alfred Döblin oder das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun. Hier betritt erst einmal Erwin vergrätzt die Roman-Bühne. Es handelt sich um den Kneipenbesitzer Erwin Kächele, Wirt des "Einfall", wie das Etablissement in der Wiener Straße heißt, Erwin, der sein strebsames Schwabentum unter einer Schicht von Missgelauntheit zu verbergen versucht.
    Seine Freundin Helga erwartet zu seiner Verblüffung ein Kind, weshalb seine früheren WG-Genossen die gemeinsame Fabriketage räumen und in die Wohnung über seiner Kneipe ziehen müssen. Die ehemaligen Mitbewohner sind aber eine undankbare Bande, außerdem wollen alle etwas von ihm, am liebsten einen Job am Tresen. Da wären unter anderem der sympathisch-schlafmützige, grundsolide Frank Lehmann, die schulflüchtige Chrissie mit ihrer entwaffnenden Kratzbürstigkeit, der Gemütsmensch Karl Schmidt, in seiner Freizeit mit Kunstinstallationen befasst, und schließlich H.R., ebenfalls Künstler, selbstbewusst, spontanistisch, genialisch.
    Post-Punks im Berlin der 80er-Jahre
    Sven Regener, als Gitarrist, Sänger und Texter der Gruppe Element of Crime seit den 80er-Jahren selbst Teil der speziellen Kreuzberger Post-Punk-Kultur, bewegt sich in seinem Figurenkosmos wie unter alten Freunden und arrangiert sie in den gewohnten Konstellationen, allerdings mit anderer Akzentuierung als in den vorangegangenen Romanen. In Herr Lehmann, dem Ur-Text und Quell aller folgenden narrativen Auswüchse, ging es um Frank Lehmann und sein militantes Müßiggängertum als Mann am Zapfhahn im Herbst 1989.
    Aus Frank war damals zu dessen Unmut "Herr" Lehmann geworden, weil der zugezogene Bremer kurz vor seinem 30. Geburtstag stand. Vier Jahre später lieferte Sven Regener in einem zweiten Roman, der Neue Vahr-Süd hieß, die Jugend seines Helden in Bremen nach, wozu nicht nur die Ausbildung als Speditionskaufmann, eine verkeimte WG und die versäumte Wehrdienstverweigerung gehörten, sondern auch der durch einen getürkten Selbstmord provozierte Rauswurf aus der Bundeswehr.
    In einem dritten Teil mit dem Titel "Der kleine Bruder" von 2008 war es dann um die Ankunft Frank Lehmanns in Berlin gegangen, wo er nach seinem älteren Bruder Manfred fahndete, einem Künstler und vermeintlichen Hans Dampf in allen Kreuzberger Gassen, der sich als schnöder Abzocker auf dem Sprung nach New York entpuppte. Da richtete sich Frank Lehmann lieber gleich selbst im Windschatten der Mauer mit Hilfsdiensten bei Erwin ein.
    Roman für den großherzigen Kumpel Karl Schmidt
    2013 hatte Regener dem großherzigen Lehmann-Kumpel Karl Schmidt einen eigenen Roman gewidmet, der zum Teil in Hamburg spielte und sich auf gekonnt beiläufige Weise mit dem Thema Depression auseinandersetzte und von einer Konzerttour erzählte: Magical Mystery oder die Rückkehr des Karl Schmidt.
    Mit dem neuen Band Wiener Straße setzt der Erfinder der Lehmann-Saga jetzt noch eins drauf. Es geht um die Zeit kurz nach Frank Lehmanns Ankunft in Kreuzberg. Und damit es nicht zu eintönig wird für alle, die sämtliche Lehmann-Sprüche bereits auswendig kennen und Berlin ohnehin nur noch mit bestimmten Lehmann-Momenten im Kopf durchqueren können, werden die verschlungenen Handlungsstränge dieses Mal aus der Perspektive der Nebenfiguren aufgerollt.
    Während sich Erwin mit Tapetenrollen herumschlägt und seine ehemaligen Mitbewohner verflucht, steht H.R. noch im Baumarkt, hält eine sogenannte Grabgabel in der Hand – eine Art Mistgabel mit mehreren dicken Zinken - und bemüht sich um die Verständigung mit einem Verkäufer.
    "Ja, wenn Sie dann so nett wären und mir eine Kettensäge herüberbringen würden", sagte H.R., ohne die Befingerung der Grabgabelspitzen zu unterbrechen. Er wusste genau, dass man jetzt nicht lockerlassen durfte, vor allem durfte er jetzt nicht zu den Kettensägen gehen, er war mit der Grabgabel noch nicht fertig, Grabgabel, Grabgabel, das Wort wurde immer besser, je länger er es in Gedanken hin- und herschob, ich habe hier eine Grabgabel für dich, die wird dich grabgabeln, Gabi, dachte er, das würde ein Gedicht werden, wenn er es sich merken konnte. Denn das war sein Prinzip: Ideen, die man wieder vergaß, die man hätte aufschreiben müssen, waren es nicht wert.
    Eskalationsästhetik im Baumarkt
    Der Mann in der rot-weiß karierten Latzhose schob beide Daumen hinter die Träger eben jener Latzhose und drückte sie nach vorne, bevor er sagte: "Wattn ditte? Spinnick? Bin ich hier die gute Fee oder was?" "Oder wat!" sagte H.R. "Wie oder wat?" "Entweder berlinern oder nicht berlinern, aber nicht das dauernde Durcheinander", sagte H.R. "Entweder ´Wattn ditte´und ´spinnick´ und dann auch ´binnick´ und ´oder wat´ oder gar nicht! Sonst nervt das!"
    "Wattn, wattn? Binnick hier die Wohlfahrt? Hol ick hier die Kettensäjn oder wat?" H.R. hob die Gabel und richtete sie auf den Mann.
    "ICH DACHTE, SIE WOLLTEN HELFEN! DAS HABEN SIE DOCH GESAGT: KANNICK HELFEN! GENAUSO: KANNICK HELFEN! DAS HABEN SIE GESAGT! GENAUSO: KANNICK HELFEN! ODER NICHT?!" brach es aus ihm heraus.
    "Ich schon, aber…."
    "ICH DACHTE, SIE WOLLTEN HELFEN!!"
    "Nun warten Sie doch mal…!
    H.R. packte die Grabgabel etwas fester, hielt sie noch etwas höher und schob sie etwas weiter vor.
    "DA HAT MAN EINMAL EINE BITTE, UND WAS PASSIERT? GAR NICHTS! WENIGER ALS GAR NICHTS! DUMME SPRÜCHE UND DAS WAR’S DANN! MIR REICHT’S, ICH KANN NICHT MEHR, JETZT IST MIR ALLES EGAL, ICH WILL NICHT MEHR, IHR WERDET SCHON SEHEN, WAS IHR…"
    "40, 53 oder 62 Kubik?"
    "Was Kubik?"
    "Kubikzentimeter. Hubraum. Von der Kettensäge. Das muss ich wissen, dann bring ich eine: 40, 53 oder 62?" "Bringen Sie ruhig alle drei", sagte H.R., der sich wieder beruhigte. "Ich such mir dann eine aus!"
    Wie man auf Berlinisch rumpöbelt
    Mit einem glänzenden Gefühl für Rhythmus entwickelt Sven Regner hier eine Eskalationsästhetik – das Ende der Fahnenstange ist noch längst nicht erreicht, es kommt zu weiteren Übersteigerungen und Überbietungen. Dass die Szene einen komischen Effekt hat, liegt an der Verdoppelung der semantischen Ebenen: Während der Verkäufer im Affekt reagiert, ins Berlinische fällt und dann wieder auf Hochdeutsch herum bellt, geht H.R. zuerst nicht inhaltlich auf die Bemerkung des wutschnaubenden Baumarktmannes ein, sondern mahnt die korrekte dialektale Endung des Interrogativpronomens "was" an. Er will "wat" hören, also ein "t" statt des hochdeutschen "s". Dann führt H.R. mit seinen Beispielen "binnick" und "spinnick" die Reihe der berlinischen Lautverschiebungen fort, spielt sich also als Dialektologe auf.
    Die professorale Besserwisserei steht im Widerspruch zu seinem Habitus als alternativer Künstler, was schon an sich witzig ist. Gleichzeitig bringt er eine Metaebene ins Spiel, auf die sein Gegenüber nicht eingehen kann, weil er sie nicht durchschaut, und nimmt ihm damit den Wind aus den Segeln. Dann überflügelt H.R. die pampige Reaktion des Verkäufers auch noch emotional und brüllt herum. Diese Mischung führt zu dem gewünschten Resultat. Wenige Minuten später hält er eine Kettensäge in der Hand – und kauft sie dann tatsächlich auch, allerdings erst, nachdem ihn eine unerschütterliche und auf ihre Weise ebenso berlinische Kassiererin zurechtgestutzt hat.
    Des Musikers Arbeit mit dem Erzähltempo
    Ein weiteres Mittel, das die Komik der Szene verstärkt und auf das sich Sven Regener als Musiker bestens versteht, ist der Umgang mit dem Erzähltempo. Ob rasante Steigerungen, abruptes Abflauen, ein lässiges Slowdown oder Stillstand, Regener variiert beständig den Rhythmus. In Wiener Straße arbeitet der Schriftsteller mit sehr langen, mäandernden Satzketten, die sich über eine ganze Seite erstrecken können. Einen Kontrapunkt bilden die vielen Dialoge und die Gliederung des Romans in extrem kurze, hart aneinandergeschnittene Kapitel. Wie bei einer Drehbühne wechselt mit jedem Kapitel der Schauplatz.
    Oft geht es dabei vor und zurück, vor und zurück, als hinge der Plattenarm in einer Rille fest. Gerade noch schaute man Erwin in der vergammelten Wohnung dabei zu, wie er verzweifelt nach dem Lichtschalter tastete, schon steht man neben dem giftigen Baumarktverkäufer, um eine Seite später wieder bei Erwin zu landen. Natürlich hat Sven Regener seine Handlungsorte mit Bedacht gewählt und mit dem typischen Berlin-Flair ausgestattet. In der abgeranzten Wohnung, die vom Vormieter komplett schwarz gestrichen wurde, herrscht das klassische Second-Hand-Gefühl: Alles in der Mauerstadt ist benutzt, abgegriffen, nachkriegsartig und höchstens von einer No-future-Patina übertüncht.
    Der Baumarkt dagegen ist der Ort, an dem der Ur-Berliner zu sich kommt und seine Vorstellung von Gemütlichkeit in Angriff nehmen kann. Hier regiert eine Spezies, die im Roman der "Alles-Frisch-Berliner" genannt wird, nach einem Aufkleber der Fleischer-Innung, den sich die Ureinwohner mit Vorliebe aufs Auto pappen. Immer wieder steigert sich Wiener Straße zu einer grellen Milieustudie. Auch Erwins Kneipe "Einfall" weist die Insignien der Achtzigerjahre auf: Düster, klebrig, überall zertretene Bierdosen. Erst als Chrissie in einem genialen Schachzug eine Kuchentheke einrichtet, die dann allerdings gleich wieder für die Präsentation von Kunstwerken unter dem Slogan "Neue Nationalgalerie" zweckentfremdet wird, wandelt sich das Ambiente.
    Subkulturelle Popkultur
    Wie bei einer Nummernrevue lässt Sven Regener dann kapitelweise weitere Figuren aufkreuzen: Zum Beispiel den redebedürftigen Nachbarn Marko, der Taxi fährt, sich als Ostler auf alles Handwerkliche versteht und die Renovierung der besagten Wohnung ungefragt in die Hand nimmt. Zu Erwins Verdruss reist seine Schwester Kerstin, Chrissies Mutter an, versorgt die Kneipe aber mit ihrem schwäbischen Apfelkuchen, was ein überraschender Geschäftserfolg wird. Mit von der Partie ist außerdem der Spin-Doctor der Kreuzberger Kunstszene P. von Immel, österreichischer Pseudo-Hausbesetzer und durchtriebener Erfinder einer Galerie, die sich im typischen Szene-Jargon "Arsch-Art" nennt. Frank Lehmann hatte ihn schon in dem Roman Der kleine Bruder ziemlich schnell durchschaut. P. Immel mischt genauso wie H.R. und Karl Schmidt bei einer großen Kunstausstellung mit, die ein gewisser Wiemer organisiert und mit dem Pathos der Achtzigerjahre "Die Haut der Stadt" tauft. P. Immel präsentiert mit seinem Gefolge ein besonderes Spektakel.
    "Hier Wiemer, schau mal!" sagte P. Immel. Er klatschte in die Hände. "Macht mal das erste Bild, Jungs!"
    "Wieso komme ich mir bei euch immer wie ein Bewährungshelfer vor, Leute?!"
    "Warte mal, das wird super, guck mal!"
    Die drei Typen in rosa Overalls bildeten eine Art dreizackigen Stern, indem zwei sich schräg gegeneinanderstellten und der dritte bei ihnen auf die Schultern kletterte. "Und jetzt du, Kacki!" P. Immels notorischer Prügelknabe, der neuerdings Kacki hieß und einen braunen Anzug trug, stellte sich vor die drei anderen. "Das ist doch schon mal gut" sagte P. Immel beifallheischend zu Wiemer.
    "Was soll das denn darstellen?"
    "Scheiße im Propeller!" sagte P. Immel.
    Dr. Votz, P. Immel und der Kacki
    "Soso", sagte Wiemer. "Und woher sollen die Leute das wissen?" "Das sollen die gar nicht wissen. Die lebenden Bilder laufen, während Dr. Votz spielen, Playback und mexikanisch in einem, und dann wird es Leute geben, die es verstehen, und Leute, die es nicht verstehen, und beides ist gleich gut. Eigentlich ist es sogar besser, wenn keiner drauf kommt…", sagte P. Immel und Wiemer merkte, dass er sich den Quatsch, den er da erzählte, erst beim Reden ausdachte und dabei immer stolzer darauf wurde, es war bizarr, aber auch faszinierend, "…wenn die Bilder also praktisch eine Geheimsprache sind, von der man dann auch merkt, dass sie es sind, wenn man also merkt, dass da eine Bedeutung ist, aber man kennt sie nicht, und dazu dann noch die Musik von Dr. Votz, mexikanisch, das ist doch super!" Der Propeller aus den drei Typen in ihren rosafarbenen Overalls fing an zu wackeln und fiel in sich zusammen. "Die üben noch!" sagte P. Immel. "Wer übt, ist feige!" sagte Wiemer und ging weiter.
    Sven Regener ist ein Virtuose der Beiläufigkeit, des zur Seite weg gesprochenen Dialogs, der es dennoch in sich hat. Er nimmt nicht nur den Sponti-Kunst-Sprech aufs Korn; die Szene ist auch soziologisch und kulturgeschichtlich aufschlussreich. P. Immel ist der Prototyp eines Galeristen, wie sie später in der Nach-Wendezeit Furore machen sollten. Der Mini-Diktator versteht sich auf mediale Inszenierungen, er weiß, welche Fernsehbilder ein Kulturmagazin braucht und äfft das Prinzip der grenzüberschreitenden und bewusst fehlerhaften Performances nach, wie sie damals zum Beispiel von den Einstürzenden Neubauten zelebriert wurden.
    Genauso treffend wie P. Immel ist auch die Figur des Kurators der Ausstellung gestaltet. Eigentlich ist er kaum mehr als ein besserer Sozialarbeiter, aber er stellt sich schlau an und antizipiert die Vermarktung Berlins als Kunstmetropole. Wer den substanziellen Essay über die West-Berliner Subkultur zwischen 1979 und 1989 von Wolfgang Müller gelesen oder den Dokumentarfilm B-Movie – Lust und Sound in West-Berlin von Mark Reeder gesehen hat, erkennt in Sven Regeners Roman Etliches wieder.
    Beiläufigkeit in Westberlin
    Sven Regener wäre natürlich nicht Sven Regener, wenn es nicht noch zu einer Fülle von absurden Verwicklungen und ungeahnten Höhepunkten käme, bei denen die Ausstellung aus dem Ruder läuft, ein Kontaktbereichsbeamter mitmischen darf und ein Wein namens Château Strunzinger verköstigt wird.
    Manchmal spielt Sven Regener die Nostalgie-Karte vielleicht allzu sehr aus. Ab und zu lässt er sich von seinen eigenen Ideen verführen und reitet zu lange auf ihnen herum: Wenn nacheinander dreizehn Kreuzberger auf der Suche nach einem Kaffee ins noch geschlossene "Einfall" stolpern, wo Erwin gerade behauptet, dass eh niemand Kaffee wolle. Dann verkehrt sich die Sache ins Slapstickhafte und man schaltet auf Durchzug, genauso wie Frank Lehmann es bei dem dauerlabernden Nachbarn Marko immer tut. Trotzdem: Regener hält das Niveau seiner Serie und legt mit Wiener Straße ein gelungenes Buch vor. Nebenbei verhandelt der Schriftsteller auch noch Dinge, die über einen guten Gag hinausweisen. Für die Ausstellung hat Karl die Idee, seine Arbeiten in zugenagelte Kisten zu packen und die Kisten als Wundertüten zu verkaufen. Das Problem ist nur, dass er am Ende selbst nicht mehr weiß, wo er was verstaut hat.
    "Karl brach die Kiste auf, sah rein und sagte: "Scheiße!" "Was denn?" Karl nahm eine der Drahtskulpturen, die Frank aus der Neuen Nationalgalerie kannte, und stellte sie neben sich in die Gosse. "Moment". Karl öffnete die andere Kiste. "Ah!" Er zog eine Flasche Bier heraus. "Die habe ich gesucht." Er öffnete die Flasche an der Kante der Kiste und nahm einen langen Schluck. "Das war da drin?" fragte Frank ungläubig. "Eine Flasche Bier? Das soll Kunst sein?" "Jetzt nicht mehr!" sagte Karl."
    In klassischer Sven-Regener-Manier wird hier in wenigen Zeilen die Frage erörtert, was Kunst eigentlich zu Kunst macht. Regener karikiert eine Praxis der Subkultur, ihre spontanen Aktionen mit einem hochkulturellen Gestus zu Kunst zu erklären und sich damit einen Nimbus zu verschaffen. Der Clou ist hier aber, dass Karl den umgekehrten Weg nimmt: Aus einer Bierflasche, die, in einer Kiste verpackt, als Kunstwerk ausgestellt worden war, wird wieder eine Bierflasche. Es ist diese Poetik der absichtsvollen Anspruchslosigkeit, die an Sven Regener immer wieder verfängt.
    Sven Regener: "Wiener Straße"
    Galiani Berlin 2017. 296 Seiten, 22 Euro.