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Symbol der menschlichen Schwäche

In ihrem neuesten Buch "Eine ausnehmend lange Linie" erzählt Hanna Krall die Geschichte eines Lubliner Mietshauses. Im neunzehnten Jahrhundert ging es in den Besitz eines Ehepaars über. Um dieses Paar, Franciszka und Marek Arnsztajn, gruppiert die Schriftstellerin eine Schar von Menschen, die über Jahrzehnte mit dem Haus verbunden waren.

Von Marta Kijowska | 29.03.2006
    "Je schrecklicher eine Geschichte ist, desto leiser, ruhiger soll man sie erzählen": Das hat Hanna Krall in den siebziger Jahren gelernt, als sie Marek Edelman, den letzten Anführer des Warschauer Ghettoaufstands, interviewte und anschließend ihren berühmten Bericht "Schneller als der liebe Gott" schrieb. Seitdem befolgt sie diese Regel in all ihren Reportagen – vor allem in denen, die von Holocaust-Überlebenden handeln und in den Bänden "Legoland, Existenzbeweise oder Tanz auf fremder Hochzeit" versammelt sind.
    Ihren Stil macht ihr niemand so schnell nach: Er ist sachlich, sparsam, bar jeder Ornamentik, doch zugleich konfrontiert Hanna Krall den Leser mit einer solchen Fülle an Informationen und Zitaten, als wollte sie mit jeder erzählten Geschichte ein kleines Universallexikon vorlegen. Ihre Schreibweise hat außerdem zur Folge, dass der Schauplatz ihrer Bücher gleichsam zweidimensional erscheint: da der Mikrokosmos einer Straße, eines Hauses, einer Wohnung – dort die große, weite Welt, in die das Schicksal die Bewohner hinausgeführt hat. So ist es auch in ihrem neuesten Buch, Eine ausnehmend lange Linie, in dem sie die Geschichte eines Lubliner Mietshauses erzählt.

    "Es ist dreigeschossig, verputzt, mit Satteldach auf hölzernem Dachstuhl, Flur in der Mitte, rechteckigem Grundriss. Erbaut wurde es vor 470 Jahren. Es steht auf Kellergewölben, die tief sind, weitläufig, verschlugen wie ein Labyrinth. Sein erster Besitzer, im sechzehnten Jahrhundert, war ein Gewürzhändler. Im neunzehnten Jahrhundert ging es in den Besitz des Ehepaars Arnsztajn über. Sie – Dichterin, er Doktor der Medizin."

    Um dieses Paar, Franciszka und Marek Arnsztajn, gruppiert Hanna Krall eine Schar von Menschen, die über Jahrzehnte mit dem Haus verbunden waren: Juden und Nichtjuden, ständige Bewohner und Menschen, die nur auf der Durchreise oder auf der Flucht waren, Nachbarn, Freunde, Nachfahren.

    Und da gibt es noch den jungen, begabten Dichter Józef Czechowicz, gewissermaßen die zentrale Figur der Geschichte. Ihm bzw. seiner ungewöhnlich langen Lebenslinie, die er mit kindlichem Stolz herumzeigt, verdankt das Buch auch seinen Titel. Man könnte meinen, sie soll gleichzeitig als Synonym des Fortbestands, der Kontinuität gelten – sei es im allgemeinen Sinne, sei es in bezug auf die jüdische Geschichte. Doch in Hanna Kralls Augen ist sie vor allem ein Symbol der menschlichen Schwäche.

    "Der Mensch bildet sich ein, dass er etwas weiß, dabei weiß er eigentlich gar nichts. Und nichts, was wirklich wichtig ist, hängt von ihm ab: weder die Liebe noch das Leben noch der Tod. Der junge Dichter Czechowicz glaubte fest daran, dass ihm nichts Schlimmes zustoßen würde. Als er seine lange Lebenslinie herumzeigte, hatte der Krieg schon begonnen, er tat es beinahe im Bombenhagel. Trotzdem war er voller Zuversicht, dass dieser Krieg ihm nichts anhaben könnte. Und dann hat es ihn am neunten Kriegstag erwischt. – Das ist also der gedankliche Ansatz meiner Geschichte: dass der Mensch im Grunde sehr schwach ist, dass alles eine einzige Illusion ist. Selbst diese Zuversicht ist eine Illusion."

    Józef Czechowicz gehörte nicht zu den Bewohnern des Hauses, doch er war eng mit der Hausherrin Franciszka Arnsztajn befreundet. Mag sein, dass es ohne diese Freundschaft auch Hanna Kralls Buch nicht gäbe:

    Wie jedes Mal, brauchte sie auch diesmal etwas, was sie zum Schreiben animieren würde – eine Szene, eine Äußerung. Eines Tages war das richtige Bild da: der junge Dichter, der in das lange, schwarze Hörrohr der fast tauben Franciszka Arnsztajn seine Gedichte hineinschreit. Also wurden die beiden zu Hanna Kralls eigentlichen Protagonisten. Nur so nämlich, meint sie, über das Mitgefühl für einen Einzelnen, kann man "das Bedauern wecken, dass es die jüdische Welt nicht mehr gibt".

    Oder kann man dies auch anders erreichen? Gerade in diesem Buch greift Hanna Krall zu einem neuen Kunstgriff, indem sie immer wieder eine anonyme Menschenmasse auftreten lässt.

    "Es gibt eine gewisse Dissonanz zwischen der Realität und meiner bisherigen Art, sie zu beschreiben. Denn die Geschichte des Holocaust, das ist gewissermaßen die Geschichte einer ganzen Nation. Sie alle waren zum Tode verurteilt – Dumme und Kluge, Gute und Schlechte, alle ohne Ausnahme, das ganze Volk. Ich habe aber trotzdem bis jetzt immer über einzelne Personen geschrieben, denn man kann nicht gleichzeitig von einer ganzen Nation erzählen. Erst in diesem Buch verwende ich zum ersten Mal die Pluralform. Ich beschreibe an etlichen Stellen große Menschenmengen, die unaufhörlich in Bewegung sind. Zunächst gehen sie aus ihren Häusern ins Ghetto, dann gehen sie in die Synagoge, dann zum Umschlagplatz, der sich vor dem Schlachthaus befand, schließlich in die Waggons. Sie gehen und gehen, und am Ende wartet der Tod."

    Die Form, in der Hanna Krall die Unaufhaltsamkeit dieses Todesmarsches wiedergibt, hat etwas Balladeskes an sich. Jede weitere Station etwa veranlasst sie zu einer peniblen, refrainartig wiederholten Inventur der mitgetragenen Habseligkeiten:
    "Sie trugen: Rucksäcke, Bündel mit Bettzeug, Familienfotos, Sabbatleuchter, Briefmarkenalben, Gebetschals in Säckchen aus Samt oder aus Seide, Lieblingsspielzeug, eine Schüssel, an der an ein paar Stellen die Emaille abgeplatzt war, eine Schachtel mit einem Zylinder, Kopien sehr wichtiger, ein halbes Jahrhundert alter amtlicher Schreiben."

    Diese balladeske Form unterstreicht die Tragik des jüdischen Untergangs, gibt ihm aber auch etwas Schön-Erhabenes. Mancher Leser wird dies bedenklich finden, was Hanna Krall allerdings genauso wenig bekümmert wie die Tatsache, dass einige Schicksale, von denen sie berichtet, kaum glaubwürdig erscheinen. Sie wolle keine klaren Antworten geben, lautet ihre Erklärung, sie wolle einfach nur die Welt beschreiben. Und da die Welt kompliziert sei, solle man sie auch so darstellen. Als ein raffiniertes Mosaik also, dessen einzelne Steine dennoch exakt zueinander passen.

    Hanna Krall: Eine ausnehmend lange Linie, Aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann, Verlag Neue Kritik, Franfurt a. M. 2005, 17 Euro.