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Symbol des Wertewandels

Michal Zamir hat eine Humoreske über den unaufhaltsamen Auflösungsprozess eines einst geschlossenen Viertels in Tel Aviv geschrieben. Der geschilderte Ausverkauf hat exemplarische Bedeutung: Die israelische Gesellschaft scheint vordringlich mit dem Kalkulieren von Profiten beschäftigt zu sein.

Von Sigrid Brinkmann | 01.10.2009
    In Michal Zamirs Roman heißt die Siedlung "Newe Chanit – Oase des Speers". Unverkennbar gemeint aber ist das Viertel Tsahala im Norden von Tel Aviv. Es wurde nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 gegründet. Die obersten Generäle und Offiziere der Tsahal, der israelischen Streitkräfte, bezogen dort bescheidene Bungalows. Auch Verteidigungsminister Moshe Dayan gehörte zur Nachbarschaft, in der Michal Zamir aufwuchs.

    "Es war eine Insel inmitten von Feldern. Man konnte dort abtauchen vor der israelischen Wirklichkeit. Die Häuser waren klein und sahen mehr oder weniger alle gleich aus. Ein Zaun war vielleicht mal etwas höher gezogen. Man lebte bescheiden, gemäß dem sozialistischen Ideal. Ein bisschen wie im Kibbuz. Dass der Ort etwas Besonderes war, kapierten wir Kinder erst, als 1973 nach dem Jom-Kippur-Krieg Demonstrationen vor Moshe Dayans Haus stattfanden. Und danach haben wir mehr wahrgenommen. Ich fing an, etwas von den Gesprächen der Erwachsenen aufzuschnappen. Ich begriff, dass nicht alle einer Meinung waren und dass es Spannungen gab zwischen unserem Viertel und der Nachbarschaft, in der Neu-Einwanderer wohnten - eine arme Gegend. Außerdem kam ich in die Pubertät und rebellierte gegen meinen Vater. Die Siedlung wurde plötzlich zu einem Ort, an dem sich die Macht konzentrierte. Manchmal schaue ich ein bisschen wehmütig auf das Viertel, manchmal voller Hass."

    Michal Zamir hat eine Humoreske über den unaufhaltsamen Auflösungsprozess des einst geschlossenen Viertels geschrieben. Von der ersten Seite an zieht sie uns hinein in die Welt der Alteingesessenen, die ihren Platz in der Siedlung räumen. Manche pokern hoch, verkaufen ihre abgewohnten Häuser zu Höchstpreisen und ziehen in kleine Wohnungen mit Portier und Sicherheitsdienst. Andere sterben plötzlich und die Kinder übernehmen die Verkaufsregie. Und eine Handvoll prinzipienfester ehemaliger Kämpfer gibt sich – aus Protest gegen den Ausverkauf der Siedlung an Neureiche – stillschweigend die Kugel. Itzig Glück ist der erste Tote in Michal Zamirs Roman. Bei ihm konnte man Zeitungen, verstaubte Bücher, Batterien fürs Transistorradio und Nippes kaufen - alles dreimal so teuer wie im fünf Busstationen entfernt gelegenen Einkaufszentrum. Er fiel einfach um beim Einwickeln von Münzen in Zeitungspapier, und die Kundin, die ihn fand, genoss flüchtig das Unbeobachtetsein beim Inspizieren der Regale. Sehr bald tritt Gaby Chayek auf. Der Makler will dem Viertel ein "umfassendes Lifting" verpassen.

    "Was der wohl beim Militär gewesen ist, dieser einfache Kerl, Gabi Chayek. Sicher ein Kantinenfritze. Vielleicht Quartiermeister, vielleicht ein Schreibstubenmann in der Truppenverwaltung. Woher nimmt er bloß diese Unverfrorenheit?"

    Das Militär stand im gesellschaftlichen Ansehen jahrzehntelang an der Spitze. Seitdem es Kriege führt, die nicht gewonnen werden können, verblasst die Strahlkraft ein wenig. Chayek will ein Spa bauen lassen – ein Bordell, mutmaßen die Alteingesessenen. Noch spricht der Rat mit einer Stimme, aber der Konsens bröckelt rasant. Mit sicherem Gespür für die argumentativen Winkelzüge führt Michal Zamir vor, wie die stolzen Bewohner des privilegierten Ortes ihre Scham ablegen und ihre Geldgier bald kaum noch verstecken. Die neoliberal gesinnten Kinder sind eh keine Bedenkenträger. Vorbei die Zeiten, in denen man noch zionistische Ideale hatte und die Parole "Erwache, erstarke Mensch" plakatierte.

    "Man sprach von Interesse, sagte, wer Interesse am Leben hat, ist ein glücklicher Mensch."

    Solch knappe Feststellungen dürfte die Autorin mit einem bitteren Lächeln notiert haben. Heute ist der Tratsch der gesellschaftliche Kitt in Newe Chanit beziehungsweise Tsahala. Der von Michal Zamir geschilderte Ausverkauf des Viertels hat exemplarische Bedeutung. Die israelische Gesellschaft scheint vordringlich mit dem Kalkulieren von Profiten beschäftigt zu sein.

    "Hielte sich nicht der Schuhmacher in seiner alten Nische hinter dem Supermarkt, könnte man meinen, es gäbe keine Grundbedürfnisse auf der Welt: Bedürfnisse wie durchgelaufene Schuhsohlen, zerrissene Schnürsenkel oder ein verhakter Reißverschluss. Ein neuer Menschenschlag hat sich allenthalben durchgesetzt ..."

    Geschickt vermeidet es die Autorin indes, die reichen Strategen und Hedonisten zu dämonisieren. Sie gibt sie dem Gespött preis. Das ist wirksamer. Bungalows werden abgerissen und Grundstücke zusammengelegt, um darauf protzige Kopien toskanischer Villen zu bauen. Die Stillosigkeit solcher Unternehmungen diskreditiert die Neusiedler.

    "Das Viertel ist eine grundlegende Metapher für die israelische Existenz. Es bleibt stets ein Ort der Elite - selbst wenn die Bewohner wechseln. Die Elite war damals eine militärische, heute sind es Wirtschaftsbosse, Medienunternehmer. Ich habe den Ort gewählt, weil es nicht nur um persönliche Erinnerungen geht. Er symbolisiert einen tiefen Wertewandel. Das Viertel war das Laboratorium, in dem das hegemoniale Geschwätz erschaffen wurde."

    Heute taxieren Makler ihre eitle Klientel und verführen die Töchter der Witwen, die Immobilienverkäufe hinauszögern. Und die Neusiedler mit ihren Zweit- und Dritthäusern? Sie halten den Alteingesessenen Vorträge über den "Willen der Allgemeinheit", über "ideologische Bevormundungen", "Big brother"-Allüren und die Vorzüge der "freien Marktwirtschaft". Michal Zamir blickt empört und angeregt zugleich auf die permanente Bautätigkeit in Tel Aviv, auf die Geschichtsvergessenheit der Einwohner und das Geschick der Politiker, Investoren in Randbezirke zu locken.

    "Man kann den Lärm, den das Kaufen und Verkaufen von Immobilien macht, förmlich hören. Hier denkt doch keiner in rationalen Kategorien. Die Gesamtsituation in Israel ist so deprimierend, dass Illusionen schnell ins Uferlose wachsen. Diese Beilaute des Handels faszinieren mich sehr."

    Aus diesem Grund verzichtet Michal Zamir in ihrem Roman auf die moralische Verurteilung einer Schicht, deren zionistische Prinzipien vom Geld zerrieben wurden. Im Gegenteil: Deren Abtreten gewinnt in ihren Beschreibungen komische Züge. Die neureiche Crème der Gesellschaft, das weiß man nach der Lektüre, wird noch weniger Spuren hinterlassen als die Gründergeneration. Mit den Worten "Alles fließt" beendet Michal Zamir ihr Buch. Halbherzigkeit oder wehleidige Resignation steckt in dieser ausgesprochenen Hingabe an das, was ist, mitnichten.