Dienstag, 19. März 2024

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Symposium in Berlin
Nation in der Krise

Wie hängen Rasse, Klasse und Nation zusammen? Und ist Rassismus wieder salonfähig? Beim Symposium "Gefährliche Konjunkturen" in Berlin wurden diese Fragen diskutiert - leider mit zum Teil nebulösen Antworten.

Von Cornelius Wüllenkemper | 18.03.2018
    Ein Demonstrant bei einer Demo rechter Gruppen in Berlin 2017 hält eine deutsche Fahne hoch
    Demonstration rechter Gruppen in Berlin 2017 (imago stock&people)
    Die Zeiten, in denen selbst überzeugte Rassisten nicht öffentlich als solche bezeichnet werden wollten, scheinen vorüber zu sein. In der vergangenen Woche etwa forderte Donald Trumps ehemaliger Chef-Stratege Steve Bannon Mitglieder des ultrarechten Front National in Frankreich, die Bezeichnung als Xenophobe oder Rassisten wie ein Ehrenabzeichen zu tragen. Ist der Rassismus wieder salonfähig? Die Soziologin Manuela Bojadžijev, Co-Kuratorin des Symposiums über "Gefährliche Konjunkturen", ist davon überzeugt, dass rassistische Konzepte angesichts sich auflösender Nationen- und Klassenbegriffe zunehmend an Bedeutung gewinnen:
    "In diesem Zusammenhang ist der Rassismus glaube ich deswegen so relevant, weil er diese Punkte zusammenbindet, nämlich die Frage der Ausbeutung und die Frage danach, "zu wem gehören wir eigentlich noch?", und uns eine rassistische Antwort darauf gibt, nämlich zu sagen: Wenn diese Dinge sich in einer Transformation befinden, dann sollten wir doch wieder auf uns zurückkommen. Wer sind wir? Welche Vorstellung von "wir" können wir eigentlich entwickeln? Und da kommen dann ganz alte Fragen und Vorstellungen an die Oberfläche zurück."
    Digitales Proletariat ohne Identifikation
    Nicht nur die Nation, auch die Arbeiterklasse ist in der Krise. Ein praktisches Beispiel dafür, wie der herkömmliche Klassengedanke sich heute auflöst, lieferte Mark Graham, Professor am Oxford Internet Institut. Graham untersuchte weltweit neue Arbeitsmodelle der Netzwirtschaft. Gerade in den Entwicklungsländern, so Graham, entwickle sich in rasanter Geschwindigkeit ein digitales Lumpenproletariat, das keinerlei politische Repräsentation habe. Er beschreibt diese Entwicklung so:
    "Viele der digitalen Arbeiter wissen gar nicht, für wen sie arbeiten. Wie wissen noch nicht einmal, was sie eigentlich genau tun. Sie haben eine Aufgabe, wissen aber nicht, welchem Zweck sie dient, wie ihr Aufraggeber damit Geld verdient, und welchen Platz sie selbst in der Wertschöpfungskette haben. Das verhindert natürlich auch eine Identifizierung mit anderen Arbeitern ihrer Art, wenn sie weder das Ziel ihrer Arbeit kennen, noch den Kunden geschweige denn ihre Kollegen."
    Ausgangspunkt "Rasse, Klasse und Nation"
    Das Symposium über gefährliche Konjunkturen in Berlin ging keineswegs nur auf gegenwärtige realpolitische Entwicklungen ein. Ausgangspunkt war vielmehr ein Klassiker der Rassismus-Theorie. Vor dreißig Jahren entwickelten der französische Philosoph Etienne Balibar und der US-amerikanische Soziologe Immanuel Wallerstein ihre Idee, dass die Konzepte von "Rasse, Klasse und Nation" untrennbar miteinander verbunden sein. Rassismus, so Balibars Überzeugung, habe als isoliertes biologistisches Konzept nie Überzeugungskraft gehabt. Vielmehr diene er als Vorwand zur Hierarchisierung der kapitalistischen Weltordnung. Zugleich würden heute angesichts der Migrationsbewegungen überholte Nationen-Konzepte neu legitimiert. Etienne Balibar:
    "Das Wort Rasse hat eine äußerst diffuse Bedeutung, die sich ständig verändert, je nach Situation und der bezeichneten Gruppe von Menschen. Die Frage der Rasse ist heute dramatischer, aber sicher nicht klarer, als vor dreißig Jahren. Durch das Konzept der Rasse wird die Vielfalt der Menschen in ein Kollektiv gezwängt. Man erfindet, definiert oder institutionalisiert verschiedene Gruppen, die vermeindlich unveränderlich und geschlossen sind. So erklären sich auch die Obsessionen gegen Vermischung oder die Übernahme von Teilen einer fremden Kultur."
    Wichtige Fragen, oft nebulöse Antworten
    Der Kongress fasste das Thema der "gefährlichen Konjunkturen" unserer Zeit sehr weit. Die indische Wissenschaftlerin Maya Indira Ganesh etwa zeigte, inwiefern moderne Gesichtserkennungssoftware erhebliche Leistungsunterschiede je nach ethnischen Gruppen und Geschlechtern aufweist. Der Berliner Soziologe Serhat Karakayali untersuchte paternalistische Weltanschauungen in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe. Und die südafrikanische Soziologin Zimitri Erasmus unterstrich, die Frage sei nicht was man ist, sondern wer man ist. Das Symposium im Haus der Kulturen der Welt stellte wichtige Fragen, verlor sich aber in der unüberschaubaren Vielzahl der Disziplinen und Theorien nicht selten in eher nebulösen Antworten.