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Syrer in der Türkei
"Über eine Million syrische Kinder brauchen Schulbildung"

Obwohl die Bundesregierung die Einrichtung von Schulen in der Türkei unterstütze, besuchten bisher nur ein geringer Teil der syrischen Flüchtlingskinder Bildungseinrichtungen, sagte Carl Tästensen, Türkei-Landesdirektor der GIZ, im DLF. Das müsse sich dringend ändern.

Carl Tästensen im Gespräch mit Christine Heuer | 11.02.2016
    Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze bei Öncüpınar.
    Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze bei Öncüpınar. (Imago / ZUMA Press)
    Was den Flüchtlingen neben den Grundbedürfnissen wie Nahrung, eine trockene und warme Unterkunft und ärztlicher Vorsorgung derzeit am meisten fehle, sei eine Perspektive für die Zukunft. "Keine Schule, keine Jobs, kein Einkommen - das heißt Abhängigkeit und Perspektivlosigkeit", sagte Carl Tästensen von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).
    Von den rund 2,5 Millionen Flüchtlingen in der Türkei seien rund eine Million Kinder. Weil die Regierung sie auf die ländlichen Regionen verteilt habe, wo es zu wenige Schulen gebe, besuchten 90 Prozent der Kinder derzeit überhaupt keinen Unterricht, bemängelte Tästensen. Dass sie die türkische Sprache nicht beherrschten, hemme viele Kinder, Kontakte zu knüpfen und sich zu integrieren.
    Die GIZ unterstützt im Auftrag der Bundesregierung den Aufbau und die Ausstattung von Schulen in der Türkei und organisiert Türkisch-Unterricht, damit die Flüchtlingskinder möglichst schnell am normalen Schulunterricht teilnehmen können.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Es ist kalt, es gibt zu wenig zelte, vor allem Alte, Kinder und Schwangere sind dringend auf medizinische Hilfe angewiesen. Auch daran hapert es an der syrisch-türkischen Grenze, dort, wo Zehntausende Menschen auf ihrer Flucht aus Aleppo angekommen sind, dort, wo die Türkei den allermeisten von ihnen die Einreise verweigert. Ganz in der Nähe dieses Elends auf der anderen Seite der Grenze in der Südosttürkei hilft die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, kurz GIZ, im Auftrag der Bundesregierung Flüchtlingen, die es über die Grenze geschafft haben. Auch im Nordirak ist die GIZ aktiv. Dorthin haben sich besonders viele Jesiden vor dem IS geflüchtet. Was die vor Krieg und Terror geflohenen Menschen an beiden Einsatzorten am nötigsten brauchen, darüber möchte ich jetzt mit Carl Tästensen sprechen, dem Landesdirektor der GIZ für die Türkei, Syrien und den Irak, den wir heute in Berlin erreichen. Guten Morgen, Herr Tästensen.
    Carl Tästensen: Einen schönen guten Morgen, Frau Heuer.
    Heuer: Die GIZ hilft Flüchtlingen, Flüchtlingen an der türkisch-syrischen Grenze. Bevor wir über Ihre Projekte dort sprechen, die ja in der Türkei stattfinden, haben Sie mitbekommen, in welcher Lage sich die Aleppo-Flüchtlinge auf der anderen Seite der Grenze in Syrien befinden?
    Tästensen: Wir hören es von Kollegen und unseren Partnern, dass sich dort natürlich die Leute in einer sehr schwierigen Situation befinden, und es ist ja nicht so, dass in diesem Bereich nicht vorher schon Flüchtlinge aufgelaufen waren, aber durch die Angriffe jetzt auf Aleppo hat sich die Situation natürlich massiv verschärft.
    Heuer: Was brauchen die Menschen auf der syrischen Seite der Grenze im Moment am dringendsten?
    "Wir haben keinen Zugang zu diesen Lagern"
    Tästensen: Ich denke, das sind die Bedürfnisse, die wir auch gesehen haben, insbesondere im Nordirak. Erst mal geht es darum in dieser kalten Jahreszeit, dass sie trockene Unterkünfte haben, dass sie sich warm halten können. Es geht darum, dass sie sauberes Trinkwasser haben, dass sie Versorgung, ärztliche Versorgung haben. Und danach geht es natürlich darum, auch andere Bedürfnisse zu befriedigen, aber in erster Linie einfach, die Grundbedürfnisse zu befriedigen: trocken, warm und ärztliche Versorgung und Nahrung.
    Heuer: Die GIZ wird sich an dieser Hilfe nicht beteiligen können, oder doch?
    Tästensen: Wir haben keinen Zugang zu diesen Lagern. Es gibt Hilfsorganisationen, die im Augenblick für die stärksten Bedürfnisse dieser Menschen sorgen, aber wir als GIZ haben momentan keinen Zugang.
    Heuer: Sie helfen syrischen Flüchtlingen in der Südtürkei. Dabei geht es vor allem um einen Schwerpunkt, nämlich den Schulunterricht für die Kinder. Warum ist das so besonders wichtig, Herr Tästensen?
    Tästensen: Na ja. Ich glaube, man muss sich erst mal klar machen, dass die Türkei, was die Versorgung der Flüchtlinge betrifft, hier vorbildlich arbeitet. Aber bei zweieinhalb Millionen Flüchtlingen, die die Türkei aufgenommen hat, was mir absolut Respekt abnötigt, muss man natürlich davon ausgehen, dass davon über eine Million Kinder und Jugendliche sind. Wir gehen davon aus, dass wie gesagt über eine Million syrische Kinder Schulbildung brauchen, und was wir feststellen ist, dass dies häufig nicht möglich ist, besonders für die Kinder, die nicht in Lagern leben, und das sind 90 Prozent. 90 Prozent der Menschen sind in Dörfern, in Städten, in aufnehmenden Gemeinden untergekommen. Es gibt verschiedene Faktoren, warum diese nicht zur Schule gehen. Ein Faktor ist sicherlich, dass es nicht genügend Schulen gibt. Ein anderer Faktor ist sicherlich, dass mangelnde Sprachkenntnisse oft eine Hemmschwelle sind. Das gilt übrigens auch für die Eltern. Wir im Auftrag der Bundesregierung und hier insbesondere des BMZ, also des bundesdeutschen Entwicklungsministeriums, unterstützen beim Ausbau und der Ausstattung von Schulen, damit diese Kinder zur Schule gehen können, und das ist eine Grundvoraussetzung natürlich auch für Integration und den türkischen Spracherwerb auch.
    Heuer: Über diese Dinge sprechen wir auch viel in Deutschland. Was bedeutet es denn für die Familien in der Türkei, denen Sie dort helfen, ganz konkret, wenn die Kinder und auch die Eltern die türkische Sprache lernen, wenn die Kinder Bildung mit auf den Weg bekommen?
    Tästensen: Wenn man die Flüchtlinge fragt, dann ist ein Aspekt, der uns in Europa natürlich auch sehr beschäftigt, ein wesentlicher Grund dafür, dass sie weiter nach Europa ziehen, Perspektivlosigkeit. Es geht hier nicht nur darum, Grundbedürfnisse zu versorgen, sondern zu dieser Perspektivlosigkeit gehört neben Schule für Kinder auch der Aspekt, dass es schwer ist, Jobs zu kriegen. Auch die Türkei hat dies erkannt und natürlich hier den Arbeitsmarkt jetzt sukzessive oder den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert für diese Flüchtlinge. Keine Jobs, keine Schule und kein Einkommen heißt Perspektivlosigkeit, heißt Abhängigkeit, und das ist nicht das, was die Flüchtlinge wollen. Insofern ist die Beschulung dieser Kinder neben anderen Qualifizierungsmaßnahmen ein wesentlicher Aspekt für die Integration und dafür, dass sie auch in der Region nahe an ihrer Heimat bleiben.
    "Viele von ihnen wollen gerne zurückkehren"
    Heuer: Und mit Bildung - das wäre jetzt nämlich genau meine Frage gewesen -, da wollen dann die Flüchtlinge erst mal in der Türkei bleiben, jedenfalls nicht weiterziehen nach Westeuropa.
    Tästensen: Nun, es gibt ja verschiedene Überlegungen. Es gibt verschiedene Fluchtursachen. Und es ist in der Tat so: Manchmal ist es erstaunlich, aber für die Eltern dieser Kinder und für die Menschen selbst als Flüchtlinge sind diese Faktoren, Jobs, Einkommen, selbstständig sich versorgen zu können und Perspektive für die Kinder, ein wesentlicher Faktor, um an einem Standort zu bleiben. Je weiter sie wegkommen von den Ländern um ihre Heimat herum, umso schwerer wird es natürlich auch, irgendwann mal zurückzukehren, und viele von ihnen wollen gerne zurückkehren. Das muss man einfach sagen.
    Heuer: Herr Tästensen, dann wechseln wir noch mal den Schauplatz und schauen nach Dohuk im Nordirak. Da gibt es ein anderes GIZ-Projekt und dorthin haben sich besonders viele Jesiden vor dem IS gerettet. Was sind die größten Sorgen dieser Menschen, die gleichen, oder sind die traumatischen Erfahrungen, die viele Jesidinnen vor allem gemacht haben, so, dass das eine Sondersituation ist auch für Sie als Helfer vor Ort?
    Tästensen: Der Sindschar ist ja eine sehr begrenzte Region, wo die Jesiden sehr konzentriert gelebt haben, und dort hat sich wirklich ein menschliches Drama abgespielt, dass sie alle aus dem Sindschar in den Nordirak flüchten mussten. Das sind Binnenvertriebene, die sehr stark gelebt haben aus der Bewirtschaftung ihres Landes, aus der Landwirtschaft, und für sie ist es ganz, ganz wichtig, dass sie neben der Betreuung auch im Falle dieser, sagen wir mal, vergewaltigten Frauen, der traumatisierten Menschen, dass diese eine Perspektive haben zurückzukommen. Wir stellen fest - und das, finde ich, ist eigentlich erfreulich -, dass es einen starken Drang gibt, zurückzugehen. Uns liegen offizielle Zahlen vor, dass bisher bis zu 38.000 Jesiden inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Wenn Sie sich aber vorstellen, wie es dort aussieht, und jetzt gerade im Winter, ohne Infrastruktur mit zerstörten Häusern, da mangelt es eigentlich an allem. Aber die Bereitschaft, dort zurückzukehren, ist groß. Das ist das, was man ihnen vorhalten möchte, und das ist auch ihr vorrangiger Wunsch. Und was ich eigentlich auch gerne erwähnen möchte ist: Wir stellen auch hier eine große Bereitschaft fest von Menschen, die lange in Europa gelebt haben. So hatte ich neulich ein Gespräch in Dohuk mit einem niederländischen Arzt mit jesidischen Wurzeln aus Kurdistan, der jetzt zurückgekehrt ist, um seinen Landsleuten zu helfen. Auch aus Deutschland beteiligen sich Kurden und Jesiden an der Hilfe für diese Menschen.
    Heuer: … und arbeiten zusammen, damit es den Menschen dort besser geht und sie vielleicht dann wirklich, wie sie es wünschen, wie Sie es geschildert haben, in ihre Heimat zurückkehren können.
    Tästensen: Absolut.
    Heuer: Carl Tästensen, Landesdirektor der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit für die Türkei, für Syrien und für den Irak. Herr Tästensen, danke für das Gespräch und dafür, dass Sie uns Ihre Eindrücke aus der Region heute Früh geschildert haben.
    Tästensen: Sehr gerne. Ihnen einen schönen Tag, Frau Heuer.
    Tästensen: Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.