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Syrien-Konflikt
"Wir brauchen mehr Aufrichtigkeit und Mut"

Der palästinensisch-jordanische Politikwissenschaftler Rami G. Khouri glaubt, dass eine politische Lösung in Syrien möglich ist. Allerdings dürfe dies keine von Europa, den USA oder Russland "aufgenötigte" Lösung sein - sondern eine in enger Zusammenarbeit mit den Völkern der arabischen Welt abgestimmte, sagte er im DLF. Alles andere wäre eine Katastrophe.

Rami G. Khouri im Gespräch mit Christoph Heinemann | 09.10.2015
    Salam Fayyad, bis 2013 Ministerpräsident der Palästinensischen Autonomiegebiete und der Politikwissenschaftler und Journalist Rami Khouri (r.) an einem Tisch mit Mikrofonen sitzend
    Rami G. Khouri: "Nach diesem Krieg wird Syrien wahrscheinlich ein zerstückeltes Land sein." (dpa/picture alliance/EPA/Julien Warnand)
    Christoph Heinemann: Wofür kämpft Russland in Syrien?
    Rami G. Khouri: Es geht um verschiedene Ziele: Das Assad-Regime oder ein anderes russlandfreundliches Regime soll so weit wie möglich an der Macht bleiben. Auch wenn dieses Regime nur ein Fünftel oder ein Viertel des Landes unter Kontrolle hat. Die Vereinigten Staaten oder andere westliche Mächte sollen daran gehindert werden, dass sie entscheiden können, welche arabischen Führer kommen und welche gehen. Und Russland versucht die Macht und die Grundlagen der Islamisten und der verschiedenen islamistischen Gruppen in Syrien zu verringern. Einige von ihnen auch im Irak. Denn diese Islamisten stehen eindeutig in Verbindung mit einigen Islamisten in Russland, die gegen die russische Regierung kämpfen. Ein vierter Grund ist, dass Russland seine Rolle im Nahen Osten und dem weiteren Einflussbereich diplomatisch wieder stärken möchten. Das sind für mich die wichtigsten Ziele.
    Heinemann: Die NATO prangert Russland wegen der Verletzung des türkischen Luftraums an. Zeichnet sich eine direkte Konfrontation ab zwischen Russland und der Türkei oder Russland und der NATO?
    Khouri Diese Anzeichen sind schwach. Die US-Regierung, der US-Verteidigungsminister hat in den letzten Tagen deutlich gesagt, dass Russland und die Amerikaner - und damit auch die NATO - eng zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass es zu unkoordinierten Störfällen kommt. Denn am Himmel über Syrien fliegen russische Jets und amerikanische sowie andere NATO-Maschinen. Ein Unfall könnte dort schnell eine Konfrontation auslösen. Jeder weiß, dass das nicht passieren darf. Insofern halte ich es für unwahrscheinlich, dass es zu einer Konfrontation zwischen Russland und NATO-Mitgliedern kommen wird.
    "Die Türkei verfolgt in Syrien nationale Interessen"
    Heinemann: Welche Interessen verfolgt die türkische Regierung in Syrien und im Nahen Osten?
    Khouri Die türkische Politik hat sich in den letzten fünf bis sieben Jahren verändert. Die Türkei stand Baschar Al-Assad und dem syrischen Regime sehr nahe. Beide verbanden starke wirtschaftliche Beziehungen und auch politische. In den ersten Tagen des Aufstandes versuchten die Türken Assad zu überzeugen, dass er den Demonstranten gegenüber nicht hart reagieren sollte. Es kam anders. Das Assad-Regime setzte Gewalt gegen das eigene Volk ein. Danach richteten sich die Türken gegen das Regime: Sie unterstützten in den vergangenen vier Jahren Oppositionsgruppen. Sie haben übrigens auch dem Islamischen Staat und anderen radikalen islamistischen Gruppen geholfen, weggeschaut, oder ihnen erlaubt, durch die Türkei nach Syrien oder in den Irak zu gelangen. Die Türken sagen, sie wollten das syrische Regime zu Fall bringen. Sie wollen außerdem verhindern, dass ein unabhängiger kurdischer Staat im Nordirak oder im Norden Syriens entsteht. Das würde unter den Kurden in der Türkei den Wunsch nach Unabhängigkeit verstärken. Die Türkei verfolgt in Syrien also auf verschiedenen Ebenen nationale Interessen.
    Heinemann: Sehen Sie die Möglichkeit einer militärischen Lösung in Syrien?
    Khouri Es ist möglich, dass entweder die Opposition oder die syrische Regierung mit großem Beistand von Iran, der Hisbollah und Russlands, dass also die eine Seite die andere besiegt. Nur: In nächsten Frühjahr dauert dieser Krieg schon fünf Jahre lang. Es ist unwahrscheinlich, dass es einen militärischen Sieg geben wird. Alle werden das zu verhindern versuchen. Denn: Wer auch immer siegen wird, den erwartet eine sehr schwierige Zeit. Er muss ein Land führen, das dann gerade diesen Krieg hinter sich hat. Und sie haben auf der einen Seite nicht nur Rebellen, sondern auch den IS. Deshalb glaube ich, dass die meisten diesen Konflikt politisch lösen wollen, und dass alle behalten wollen, was sie haben: der IS, die Regierung, auch die Oppositionsgruppen wollen ihre Gebiete behalten. Nach diesem Krieg wird Syrien wahrscheinlich ein zerstückeltes Land sein. Wenn die wichtigsten äußeren Kräfte, die diesen Krieg bestimmen, die Amerikaner, die Russen, die Iraner, die Saudis, und jetzt auch die Türkei, wenn die entscheiden, dass es in ihrem Interesse ist, dann kann eine politische Lösung erreicht werden. Es gibt keinen Beleg dafür, dass das gelingen wird. Aber darüber wird gerade ausführlich diskutiert.
    "Bis heute unterstützen die Europäer die Diktaturen"
    Heinemann: Russland hat bestätigt, dass die russische Luftwaffe die Einsätze mit der syrischen Armee koordiniert, die vom Iran unterstützt wird. Erwarten Sie, dass deshalb Saudi-Arabien eine stärkere Rolle zu spielen versucht, um den iranischen Einfluss einzudämmen?
    Khouri Ja, ich erwarte, dass die Saudis ihre militärischen und diplomatischen Anstrengungen verstärken werden, um zu versuchen, den Russen entgegenzuwirken und den iranischen Einfluss zu schwächen. Aber das wird die Lage, unter der alle leiden, nur verschärfen.
    Heinemann: Menschen in Deutschland fragen sich, wieso Saudi-Arabien und die anderen Golf-Staaten keine Flüchtlinge aufnehmen, obwohl es sich um Araber und Muslime handelt...
    Khouri Vor allem, weil die Saudis keine Hundertausende oder Millionen Syrer in ihrem Land haben wollen. Das hätte soziale Auswirkungen und stellte ein politisches Risiko dar. Einige könnten vom IS rekrutiert werden, der ohnehin versucht, Saudi-Arabien zu destabilisieren. Viele Menschen, dazu gehöre auch ich, kritisieren diese Haltung. Die Saudis müssten die Menschen willkommen heißen. Sie verfügen auf jeden Fall über die finanziellen Möglichkeiten, um kurzfristig Hilfe leisten zu können. Sie könnten rasch Flüchtlingslager in den Grenzgebieten errichten, so wie die Jordanier und die Türken das getan haben. Aber sie wollen nicht. So einfach ist die Antwort.
    Heinemann: Verstehen diejenigen, die auf internationaler Ebene die Entscheidungen treffen, in den USA, Russland in der EU, tatsächlich, was in Syrien und im Nahen Osten vor sich geht?
    Khouri Die meisten ja, vor allem in Europa. Die Amerikaner weniger. Vor allem Briten und Franzosen müssten verstehen, dass sie moralisch und historisch verpflichtet sind, weil sie so viele von diesen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg künstlich geschaffen haben. Und alle Europäer, auch die Deutschen, haben diese diktatorischen arabischen Regime 50, 60 Jahre lang unterstützt: Saddam Hussein, Hafiz Al-Assad, Muammar Gaddafi, die Militärs in Ägypten. Bis heute unterstützen die Europäer die Diktaturen. Wir benötigen mehr Aufrichtigkeit und den Mut, die wirklichen Dinge anzusprechen und zu schauen, wie man zu einer Lösung gelangt - in enger Zusammenarbeit mit den Völkern in der arabischen Welt. Wir brauchen keine Lösungen, die von Europa aufgenötigt werden. Das wurde in den vergangenen 100 Jahren versucht, und das Ergebnis ist eine Katastrophe. Amerikaner und Russen versuchen es jetzt, und das ist die nächste Katastrophe.