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Syrien-Krieg
Nahaufnahmen aus dem Kriegsgebiet

Seit 20 Jahren ist die österreichische Journalistin Petra Ramsauer in Konfliktgebieten im Nahen Osten und in der arabischen Welt unterwegs. In "Siegen heißt, den Tag überleben" schildert sie Luftkrieg, Folter und Hunger sowie die verschiedenen Interessen, die den Syrien-Krieg bestimmen.

Von Marc Thörner | 13.02.2017
    Ein Syrer steht auf einem Haufen Schutt in einem Stadtteil von Aleppo - nach einem Luftangriff.
    Ein Syrer steht auf einem Haufen Schutt in einem Stadtteil von Aleppo - nach einem Luftangriff. (AFP / Karam al-Masli)
    Vermummte springen aus der Deckung, schreien "Gott ist groß", schießen aus der Hüfte und ducken sich wieder. So sind wir das Thema Syrien seit Jahren gewohnt - im Zeitalter der Youtube-Schnipsel, der Fünf-Zeilen-Tweeds, der Ein-Absatz-Artikel. Zum Glück gibt es noch Bücher. Bücher wie von Petra Ramsauer. Wer ihre Analyse liest, findet sich plötzlich mitten auf völlig anderen Kriegsschauplatz. "Zwischen sechs Uhr morgens und zehn Uhr vormittags detonierten an diesem Tag bereits drei Fassbomben. [...] Ich bin heute dreimal innerlich gestorben." [...], sagt die 68-jährige Fetee Marousch. Sie steht wie angewurzelt im knöcheltiefen Schutt vor ihrem Haus."
    Bombenkrieg, wie ihn Mitteleuropäer zuletzt zwischen 1939 und 1945 erlebten und wie ihn viele nur noch aus den Erzählungen von Eltern und Großeltern kennen dürften. Bombenkrieg seit nunmehr ebenfalls sechs Jahren. Aber: "Es gibt keine Luftschutzräume"...schreibt Petra Ramsauer.
    "Das Leben in diesen, dem Luftkrieg schonungslos ausgesetzten Gebieten, ist eigentlich geprägt von einer ständigen Angst. Ein Zischen und dann fällt diese Regentonne mit Metallteilen, Dynamit, manchmal auch mit Chlor und anderen Giftgasen, irgendwohin und man kann eigentlich nur beten, dass es einen nicht trifft. Und vor allem gibt’s ja dann, wenn diese Bombe fällt, so gut wie kein Bergegerät. Hier entsteht in diesen Kriegsgebieten auch eine völlig körperlich und psychisch zerstörte Bevölkerung."
    Assad-Regime kaschiert Todesfälle
    Nicht nur seine Feinde an der Front versucht das Assad-Regime kompromisslos auszumerzen. Petra Ramsauer erspart uns nicht zu dokumentieren, wie die syrischen Machthaber auch ihren inneren Feind, den politischen Gegner, den Andersdenkenden einer planmäßigen physischen Vernichtung zuführen.
    "Ärzte in [den] Krankenhäusern werden gezwungen, falsche Totenscheine auszustellen. Schussverletzungen werden als Herzinfarkt kaschiert, zu Tode geprügelte Häftlinge hätten 'einen plötzlichen Tod' erlitten. Doch die Täuschung erfolgt nur gegenüber den Verwandten. Die Bürokratie des Assad-Regimes führt exakt Buch über die Toten: Name, Art der Folter, Dauer der Haft. Warum das geschieht, weiß niemand. Aber es geschieht. 600 000 solche Akten wurden aus Syrien herausgeschmuggelt. […] Die Dokumente ermöglichen es, die Befehlskette bis zu den Spitzen des Assad-Regimes zu belegen."
    Ein Massenmord. Generalstabsmäßig organisiert. Kalt durchdacht. Penibel dokumentiert. Anders als etwa die Massaker von Ruanda und Srebrenica findet dieses monströse Verbrechen in der westlichen Öffentlichkeit kaum Beachtung. Das dürfte vor allem an einem liegen: Assads offizieller Hauptgegner ist der IS. Also eine Organisation, die selbst systematisch gegen die Menschenrechte vorgeht und deren Grausamkeit vor kaum etwas Halt macht. Nicht vor Frauen; nicht vor Kindern; nicht vor Kranken und Gebrechlichen.
    Europa und die USA haben lange tatenlos zugesehen
    Um von den selbst ernannten Gottesfreunden bestialisch gefoltert oder abgeschlachtet zu werden, muss man nichts tun oder getan haben, es reicht jemand zu sein - etwa der Angehörige eines anderen Glaubensbekenntnisses oder einer bestimmten Nationalität. Lange Zeit, so zeichnet Petra Ramsauer nach, haben Europa und die USA taten- und konzeptlos zugesehen. Sie haben es geduldet, dass dschihadistische Terroristen vom Nato-Land Türkei aus nach Syrien einsickerten und von den arabischen Golfstaaten hochgepäppelt wurden - ähnlich wie zuvor in Afghanistan.
    Baschar al-Assad kann sich seitdem vor der Welt als Derjenige präsentieren, der mit harter Hand gegen diesen Terror vorgeht. Tatsächlich aber, so lernt man aus Petra Ramsauers Buch, ist er alles andere als ein säkularer Führer, trotz Schnurrbärtchen und Krawatte, denn: "Extremistische Milizen auf beiden Seiten übernehmen das Zepter des Handelns:", stellt sie klar, "Einheiten des iranischen Regimes und die libanesische Hisbollah aufseiten des Assad-Regimes, Dschihadisten aufseiten der Rebellen." Mit anderen Worten: In Syrien kämpfen nicht Verfechter eines säkularen Modells gegen Dschihadisten - sondern Dschihadisten gegen Dschihadisten. Und während beispielsweise der IS und die al-Nusra-Front auch im westlichen Ausland Sunniten rekrutieren, lassen sich die ausländischen Kämpfer für das Regime beschreiben als eine
    "Gruppe von schiitischen Kämpfern aus Pakistan, aus Afghanistan, ganz besonders aus dem Libanon, der Hisbollah-Miliz, die eigentlich mit Syrien nichts mehr zu tun hat, sondern eigentlich hier einen schiitischen Machtkampf führt. Nur mehr 20 Prozent der Armee sind intakt. Die Bodengruppen sind paramilitärische Gruppen aus dem schiitischen Umland und Bevölkerungsgruppen und die Luftwaffe ist russisch."
    Mit einem Bodensieg einer Seite könnte der Konflikt weiter eskalieren
    Eine der beiden antiwestlichen Allianzen - die von Russland gestützte - könnte in absehbarer Zeit eine Art Bodensieg in Syrien erklären. Bei Petra Ramsauer weckt das aufschlussreiche Erinnerungen: "Major combat operations in Iraq have ended. In the battle of Iraq the United States and our allies have prevailed." Die USA und ihre Verbündeten haben die Oberhand gewonnen, verkündete US-Präsident George Bush im Mai 2003 bei seinem Besuch auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln. "Mission accomplished". Im Irak war der Bodensieg der USA aber nicht das Ende, sondern erst der Beginn des eigentlichen Krieges gewesen. Eines Untergrundkrieges, ohne den der IS nie entstanden wäre.
    "Gerade diese Parallele ist eine sehr wichtige und leider auch eine sehr alarmierende. Genau dieses Szenario könnte sich dann in Syrien wiederholen. Alle gehen davon aus, dass diese verzweifelte und teilweise radikalisierte Opposition einen Untergrund führen wird, dass das wieder ein Nährboden sein wird für eine neue Terrorgruppe. Alles ist möglich."
    Mit "Siegen heißt den Tag überleben", ist Petra Ramsauer ein Buch gelungen, das seinem Titel gerecht wird: Beschreibend, analysierend, unaufgeregt. Gerade deshalb aber wühlt es auf und zwingt den Leser, seine Denkgewohnheiten über Bord zu werfen.
    Petra Ramsauer: "Siegen heißt den Tag überleben. Nahaufnahmen aus Syrien"
    Kremayr & Scheriau Verlag, 207 Seiten 22,50 Euro.