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Syrien
"Man ist Russlands Prioritäten gefolgt"

Die Einigung zwischen den USA und Russland auf eine Waffenruhe könnte zwar die Situation der Zivilisten in Syrien verbessern, glaubt Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung. Am großen Ganzen ändere es aber nichts, sagte sie im DLF. Und die Vereinbarung, dass die USA und Russland gemeinsam Angriffe fliegen wollten, sei hochproblematisch, weil es nicht allein um Angriffe auf den IS gehe.

Bente Scheller im Gespräch mit Sandra Schulz | 10.09.2016
    Zu sehen sind die Hände von US-Außenminister John Kerry (l.) und dem russischen Außenminister Sergej Lawrow.
    US-Außenminister John Kerry (l.) und der russische Außenminister Sergej Lawrow schütteln sich zum Ende der Pressekonferenz die Hand. (AFP / Fabrice Coffrini)
    "Es geht hier ja nicht um gezielte Angriffe nur auf Isis", sagte die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut im Deutschlandfunk. Stattdessen habe Russland ein Interesse daran, auch Gruppen wie die Nusra-Front zu bombardieren und so das Regime von Präsident Baschar al-Assad zu schützen. Dies geschehe nun wohl bald mit amerikanischer Zustimmung. Generell gelte: "Das Abkommen geht sehr stark in Richtung dessen, was Russland wollte."
    Eigentlich müsse das passieren, was nicht zur Debatte gestanden habe, meinte Scheller - nämlich eine Absetzung von Präsident Assad. Solange dieser im Amt sei, befürchte sie: "Wir werden weiter keine Verhandlungen sehen, die zielführend sind."

    Sandra Schulz: Informationen waren das von Dietrich Karl Mäurer, und zugeschaltet ist uns jetzt Bente Scheller. Sie leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. Guten Tag!
    Bente Scheller: Guten Tag!
    Schulz: Wie bewerten Sie diese Einigung?
    Scheller: Zunächst einmal ist das Gleiche natürlich zu sehen wie auch schon Anfang des Jahres. Eine Waffenruhe sendet ein großes positives Signal, weil natürlich die meisten Zivilisten bei Luftangriffen sterben. Deswegen wäre es schon mal eine deutliche Verbesserung der Situation von Zivilisten, wenn tatsächlich nächste Woche keine Luftbombardierungen mehr stattfinden sollten.
    Schulz: Und für wie wahrscheinlich halten Sie das?
    Scheller: In der Vergangenheit haben wir ja auch gesehen, kaum war ein Abkommen getroffen, wurde es auch gleich wieder zermürbt und unterlaufen, deswegen nehme ich an, damit müssen wir auch dieses Mal rechnen. Und natürlich ändert das noch nichts am großen Ganzen. Zwar sind die Luftbombardements das größte Problem, aber beileibe nicht das einzige. Und viele andere Dinge, zum Beispiel eine Aufhebung der Belagerung, ist in diesem Fall ja gar nicht auf dem Tisch gewesen.
    "Angriffe auf Nusra sind sehr problematisch"
    Schulz: Und wir haben jetzt auch schon viele relativierende Äußerungen aus der syrischen Opposition, Moskau werde sicher trotzdem weitermachen mit dem Bombardement, wird, sage ich jetzt mal ein bisschen salopp, geunkt, die Chancen stünden jetzt auch nicht besser als bei früheren Verhandlungen. Wovon hängt es denn jetzt ab, ob diese Waffenruhe wirklich eingehalten wird?
    Scheller: Ganz sicher vom Willen der Akteure. Und wir haben bislang immer wieder beobachten können, es gibt immer wieder Vorwände, die gesucht werden, um dann doch irgendwo einzugreifen. Aber natürlich müssen wir gar nicht nur auf die nächste Woche gucken, sondern danach ist ja eigentlich das, was interessant werden soll, die Vereinbarung, dass dann Russland und die USA gemeinsam Angriffe durchführen wollen, ist natürlich hochproblematisch, weil es hier nicht um Angriffe speziell auf ISIS geht, sondern weil man auch weiterhin über Angriffe auf Nusra spricht, und das ist natürlich sehr problematisch für Zivilisten.
    "Russland hat ein Interesse, das syrische Regime zu schützen"
    Schulz: Ist die hochproblematisch, oder ist das auch hochdiplomatisch eigentlich ein sehr positives Zeichen, dass die beiden Nationen, die zum Schluss sich ja so verhärtet hatten in dem Konflikt, dass die jetzt darüber nachdenken, zusammenzuarbeiten?
    Scheller: Ich denke, wir sollten dabei auf ein Statement blicken, das John Kerry vor einigen Wochen getätigt hatte. Da hatte er gesagt, er sei nicht interessiert an einem Abkommen, das nicht eingehalten werden würde. Und jetzt sehen wir ein Abkommen, dass sehr stark in die Richtung dessen, was Russland möchte, geht. Man ist hier Russlands Prioritäten gefolgt. Alles, was eigentlich wichtig wäre zu fordern, um tatsächlich einen Frieden zu erreichen, ist nicht geschehen. Aber Russland hat ein Interesse, um das syrische Regime zu schützen, weiterhin Rebellen zu bombardieren, die nicht ISIS sind. ISIS ist nicht die größte Gefahr für das Regime, und jetzt läuft es ja darauf hinaus, dass jetzt mit US-Zustimmung und eventuell -Beteiligung genau diese Rebellen, die der größte Feind des Regimes sind, weiter bombardiert werden können.
    Schulz: Aber sagen Sie uns noch mal, die Al-Nusra-Front, die gilt ja auch dem Westen als wichtiger und gefährlicher Feind. Was genau sehen Sie daran jetzt so problematisch?
    Scheller: Dass die Nusra-Front dem Westen ja als so großer Feind erschien, seit sie mit Al Kaida verbündet war. Sie hat sich von Al Kaida losgesagt, sie hat sich umbenannt. Wir sprechen weiterhin über Nusra, der Einfachheit halber, aber auch, weil das gar nicht richtig ernst genommen worden ist. Und die Nusra-Front ist zwar eine Rebellengruppe, die uns vielleicht nicht unbedingt gefallen mag, aber sie ist unter denjenigen in Syrien, die etwas für die Zivilbevölkerung tun, durchaus berühmt, nicht zuletzt dadurch, dass es ihr gelungen ist, den Belagerungsring um Aleppo herum zu brechen. Das war das letzte Wichtige, was sie getan haben, und deswegen ist sie für Syrerinnen und Syrer jetzt nicht die Terrororganisation, zu der sie im Westen vielleicht stilisiert wird.
    Schulz: Wenn es jetzt klappt, das setze ich jetzt mal zuversichtlich voraus mit der Waffenruhe, das ist ja der Schlüssel sozusagen, dass die politischen Verhandlungen weitergehen, aber das ist natürlich auch die Voraussetzung dafür, dass die Zivilbevölkerung jetzt besser versorgt werden kann. Wo ist die Not am größten, wo müssen die Hilfsorganisationen da zuerst hin?
    Scheller: Definitiv in allen belagerten Gebieten – und etwa eine Million Menschen in Syrien leben unter Belagerung und bis zu 99 Prozent werden sie durch das Regime oder mit Beteiligung des Regimes belagert. Hier wäre Nothilfe am wichtigsten. Aber natürlich ist es auch nicht damit getan, jetzt ein paar Konvois dahin zu schicken. Das kann ein Anfang sein. Aber bevor nicht wirklich eine Aufhebung dieser Belagerung erreicht ist, verbessert sich die Situation nur punktuell und temporär und nicht insgesamt.
    Schulz: Jetzt haben wir schon viele Male den Beginn von Verhandlungen gesehen, was ja jetzt auch wirklich erst dieser allererste Startpunkt ist. Was müsste denn dieses Mal passieren, dass die Verhandlungen wirklich weiterführen auch?
    Scheller: Eigentlich müsste das passieren, was überhaupt nicht zur Debatte zu stehen scheint: Nach wie vor ist ja für die Opposition das größte Hindernis, dass Assad weiter an der Macht bleibt. Sie hat in einer Erklärung und in ihren Ausführungen darüber, wie eine Machtübergabe stattfinden sollte, ganz klar letzte Woche gemacht, das geht nur, wenn gleich am Anfang Assad abtritt. Und das scheint im Moment nicht zur Debatte zu stehen, und deswegen fürchte ich, wir werden auch weiterhin keine Verhandlungen sehen, die tatsächlich zielführend zu einem Frieden sind.
    "Niemand möchte tatsächlich in Syrien involviert werden"
    Schulz: Kann die Opposition an dieser Forderung denn bei dem Stand jetzt, wie gesagt, bei den jetzt seit Jahren verhärteten Fronten, überhaupt an dieser Maximalforderung, Assad muss weg, festhalten?
    Scheller: Ich fürchte, sie wird dafür nicht genügend internationale Unterstützung bekommen, denn wir haben eine Genese gesehen, 2012 waren viele internationale Akteure überzeugt, Assad müsse gehen. Diese Forderung ist in den letzten Jahren immer leiser geworden, und deswegen nehme ich an, sie wird dafür keine Unterstützung bekommen. Aber es ist natürlich klar, eigentlich ist es keine Maximalforderung, sondern es ist die einzige Forderung, deren Umsetzung ermöglichen würde, dass tatsächlich eine Machtübergabe stattfindet. Denn wenn jetzt niemand willens ist, Assad aus dem Amt zu entfernen, dann wird das auch niemand sein, wenn die Transition fortschreitet. Dann wird man ja sehen, er hat tatsächlich irgendwas getan, um dem Frieden näherzukommen, und man wird weiterhin international mit ihm leben können und wollen.
    Schulz: Und warum ist dieser internationale Widerstand da zu diesem Nullum zusammengeschrumpft, wie Sie das beschreiben?
    Scheller: Ganz einfach, weil nach wie vor niemand in Syrien tatsächlich involviert werden möchte. Kosmetische Dinge oder Dinge, die man der eigenen Bevölkerung gut verkaufen kann, der eigenen Wählerschaft, wie eben der Kampf gegen ISIS, das geht. Alles darüber hinaus wird abgewehrt damit, dass die Situation viel zu komplex sei. Und deswegen ist es überhaupt zu diesem unmäßigen Blutvergießen gekommen.
    Schulz: Die Syrien-Expertin Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung heute hier bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank für Ihre Einschätzungen!
    Scheller: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.