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150. Todestag des Comte de Lautréamont
Dichterfürst der Finsternis

Erst lange nach seinem Tod am 24. November 1870 machten "Die "Gesänge des Maldoror" Isidore Lucien Ducasse berühmt. Ein Prosagedicht, das er unter dem Pseudonym Comte de Lautréamont endlich veröffentlichen konnte. Lange hatte sein Verleger gezaudert, den von Hass und Blasphemie triefenden Text herauszugeben.

Von Christoph Vormweg | 24.11.2020
    Undatiertes Porträt des französischen Dichters Isidore Lucien Ducasse, besser bekannt unter dem Namen Comte de Lautreamont. Er wurde am 4. April 1846 in Montevideo geboren und starb am 24. November 1870 in Paris. Einzelheiten über Lautreamonts Leben sind weitgehend unbekannt, seit 1867 lebte er offenbar in Paris. Sein zur zeit in der nachfolge der schwarzen Romantik und des Symbolismus stehendes, in sechs Gesänge gegliedertes Prosagedicht "Die Gesänge des Maldoror" (1874), das alle literarischen Konventionen sprengt, wurde von deen Surrealisten entdeckt und übte einen bedeutenden Einfluss auf die Lyrik der Moderne aus. |
    Isidore Lucien Ducasse, besser bekannt als Comte de Lautréamont (B3077_AFP)
    "Meine Poesie wird aus einem einzigen Angriff bestehen, geführt mit allen Mitteln gegen den Menschen, diese reißende Bestie, wie auch gegen den Schöpfer, der solch ein Ungeziefer niemals hätte erschaffen dürfen."
    Diese Ankündigung macht der Comte de Lautréamont 1869 in einem Prosagedicht wahr: den sechs "Gesängen des Maldoror", die – je nach Druckfassung - zwischen 250 und 350 Seiten umfassen. Das Pseudonym Lautréamont ist mehr als ratsam. Denn der Autor empfindet tiefen Hass auf seine Zeitgenossen am Ende des Zweiten Kaiserreichs unter Napoleon III. Hinzu kommen seine blasphemischen Attacken. Als der Drucker die Bücher anliefert, bekommt der Verleger endgültig Angst vor dem Staatsanwalt.
    Wer ist überhaupt Maldoror? In der 8. Strophe des 6. Gesangs heißt es über ihn: "Bei seinem Namen erzittern die himmlischen Heerscharen; und mehr als einer erzählt [...], dass Satan selbst, Satan die Inkarnation des Bösen, nicht so schrecklich sei."
    "Ein ganz verrücktes Talent"
    Lautréamont stirbt am 24. November 1870 im Alter von 24 Jahren in einem Pariser Hotel. Die Todesursache ist unbekannt. Doch wird die Metropole zu dieser Zeit von preußischen Truppen belagert. Hunger und Seuchen plagen die Bevölkerung. So gehen die nicht ausgelieferten Exemplare der "Gesänge des Maldoror" erst nach Ende des deutsch-französischen Kriegs auf Reisen. Lautréamonts Verleger verkauft sie nach Brüssel. Ihre Veröffentlichung 1874 bleibt ohne jede Resonanz.
    Erst über zehn Jahre später, nach der Veröffentlichung eines Auszugs der "Gesänge" in einer belgischen Literaturzeitschrift, wird aus dem Vergessenen ein Geheimtipp. Der bekannte Romancier Joris Karl Huysmans schreibt in einem Brief:
    "Das ist ein ganz verrücktes Talent, dieser Comte de Lautréamont! […] Was zum Teufel konnte wohl der Mensch im Leben machen, der diese furchtbaren Träume geschrieben hat?"

    "Die Säue erbrechen sich, wenn sie mich sehen. […] Auf meinem Nacken wächst wie auf einem Misthaufen ein gewaltiger Pilz mit doldentragenden Stengeln. Ich sitze auf einem unförmigen Möbel und habe meine Glieder seit vier Jahrhunderten nicht bewegt."
    Die Suche nach dem rätselhaften Lautréamont beginnt. Woher seine mal obszönen, mal grausamen, aber immer sprachgewaltigen, avantgardistischen Phantasien des Bösen? Woher sein Welt- und Fortschrittsekel, der mit allen Konventionen des 19. Jahrhunderts bricht? Über Lautréamonts Leben finden die Spurensucher nur wenig: geboren 1846 unter dem Namen Isidore Lucien Ducasse in Montevideo, Uruguay, als Sohn eines Konsulatsbeamten. Abitur in Frankreich. Beginn und rascher Abbruch eines Studiums an der Elitehochschule École Polytechnique. Seit 1868 freier Schriftsteller, unterstützt von väterlichen Zahlungen.
    "Der schaudernde Fächer" - Mutprobe und Gedankenporno
    Ann Cottons neuer Erzählband "Der schaudernde Fächer" ist enormer literarischer Kraftakt und Mutprobe in einem. Der Schreibstil ist heftig, wild, obszön, aber mindestens genauso sanft und zärtlich.
    Erst die Surrealisten werden im Verlauf des Ersten Weltkriegs wieder auf Lautréamont aufmerksam. Sie erklären ihn wegen seiner Bilderfluten zu einem Vorvater ihrer Technik des automatischen Schreibens. Was ein Irrtum ist. Denn Lautréamonts "Gesänge des Maldoror" demonstrieren Bewusstheit und literarische Präzision.
    André Gide notiert in seinen Elogen: "Mit Rimbaud, vielleicht sogar mehr als Rimbaud, [ist er] der Schleusenmeister der Literatur von morgen."
    Lautreamonts "Gesänge" scheinen von der "schwarzen Romantik" inspiriert. Umso erstaunlicher erscheinen seine danach entstandenen Prosagedichte. Sie zeugen von seinem inneren Kampf, das Dasein positiver zu sehen.
    Danach verstummt Lautréamont. Der Vermutung, er könnte den Freitod gewählt haben, widersprechen die Zeilen aus der 3. Strophe der "Gesänge des Maldoror".
    "Ich habe das Leben wie eine Wunde empfangen, und ich habe dem Selbstmord verboten, die Narbe zu heilen. Ich will, dass der Schöpfer, zu jeder Stunde seiner Ewigkeit, den klaffenden Riss vor Augen habe. Das ist die Züchtigung, die ich ihm auferlege."
    Nicht nur über das Leben Lautréamonts wird bis heute spekuliert, sondern auch über das Subversive seiner Sätze. Sie reißen Abgründe der menschlichen Existenz auf, die zeitlos erscheinen.

    Korrekturhinweis der Redaktion: Isidore Lucien Ducasse alias Comte de Lautréamont starb vor 150 Jahren. Eine falsche Jahresangabe in der Dachzeile haben wir entsprechend korrigiert.