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Syrisch-türkische Grenze
"Es ist ein gezieltes Schießen auf Flüchtlinge"

An der syrisch-türkischen Grenze schießen türkische Grenzschützer gezielt auf syrische Flüchtlinge, sagte Wenzel Michalski von Human Rights Watch im DLF. Die Bundesregierung müsse die Türkei auffordern, diese Schießereien sofort einzustellen, forderte der Menschenrechtsaktivist.

Wenzel Michalski im Gespräch mit Martin Zagatta  | 10.05.2016
    Eine syrische Flüchtlingsfamilie steht am Grenzzaun zum Nachbarland Türkei in der NÄhe der türkischen Stadt Kilis.
    Eine syrische Familie am Grenzzaun zum Nachbarland Türkei (picture-alliance / dpa/Uygar Onder Simsek)
    Martin Zagatta: Schießen türkische Soldaten an der syrischen Grenze tatsächlich auf Flüchtlinge und auch auf Flüchtlingskinder? Darüber hat uns vor wenigen Wochen schon Wenzel Michalski, der Deutschland-Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtet. Und mit ihm sind wir jetzt wieder verbunden, denn Human Rights Watch untermauert diese Vorwürfe nun mit einem ganz ausführlichen Bericht. Guten Tag, Herr Michalski!
    Wenzel Michalski: Guten Tag. Hallo!
    Zagatta: Was läuft da genau ab an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien? Auf wen schießen die türkischen Soldaten?
    Michalski: Die türkischen Grenzschützer schießen auf syrische Flüchtlinge, die vor der ISIS oder aber auch vor Angriffen des Assad-Regimes flüchten. Die Grenze ist hermetisch abgeschirmt seit Anfang 2015 und diese Abschirmung wird immer perfekter. Es wird eine große Mauer gebaut, es gibt den Schießbefehl anscheinend. Zumindest schießen sie auf Flüchtlinge, die augenscheinlich Flüchtlinge sind, nämlich Kinder, achtjährige Mädchen, Frauen. Da handelt es sich nicht um ISIS-Kämpfer, wie zum Beispiel die türkischen Behörden behaupten, dass sie auf solche Leute geschossen haben. Und wir haben auch Zeugenaussagen und Aussagen der Menschen, die selber davon betroffen waren. Die wurden selbst dann noch beschossen, als sie Schutz suchten, als sie um Hilfe gerufen hatten, und später auch, als sie ihre Verletzten und die Toten bergen wollten, wurden sie noch mal beschossen. Also es ist ein gezieltes Schießen auf Flüchtlinge. Das ist das, was da abgeht.
    Zagatta: Wie verlässlich sind diese Berichte? Sie beziehungsweise Ihre Mitarbeiter haben mit diesen Betroffenen tatsächlich gesprochen.
    Michalski: Wir haben mit diesen Menschen tatsächlich gesprochen. Wir haben nicht nur mit den Betroffenen, mit den Opfern gesprochen, sondern auch mit Zeugen, mit Menschen, die da auch in der Umgebung wohnen, die das auch mitbekommen haben. Ziel sind diese Leute, die wirklich vor der Not flüchten wollen, und die Türkei lässt sie nicht rein und die EU schweigt dazu.
    Zagatta: Kommen denn noch Flüchtlinge überhaupt über diese Grenze? Die ist doch jetzt schon ziemlich abgeriegelt.
    Michalski: Hin und wieder kommen noch manchmal welche rüber. Die versuchen es halt mit Schmugglern. Und dann ist das immer eine sehr gefährliche und langwierige Angelegenheit. Die Menschen versuchen es immer wieder. Und wie wir sehen ist es auch lebensgefährlich. Aber die Not in Syrien und die Gefahr in Syrien ist so groß, dass die Menschen gezwungen sind, diesen Weg zu gehen.
    Zagatta: Sie sagen, die EU schweigt dazu, dann wahrscheinlich auch Deutschland. Was sagt denn die Türkei zu diesen Vorwürfen? Räumt die denn ein, dass sie zur Sicherung dieser Grenzen auch Schusswaffen einsetzt?
    "Türkei hüllt sich in Schweigen"
    Michalski: Die haben sich dazu noch nicht geäußert. Ähnliche Fälle haben sie einfach ignoriert oder dementiert, haben gesagt, nein, das stimmt einfach nicht. Wir haben ein Schreiben an den türkischen Innenminister geschickt am 4. Mai und haben noch keine Antwort von ihm bekommen. Die hüllen sich da in Schweigen.
    Zagatta: Haben Sie denn eine Antwort von der Bundesregierung, oder von politisch Verantwortlichen in Deutschland mittlerweile mal bekommen? Ich kann mich erinnern, wir haben ja vor einigen Wochen über solche Vorwürfe schon gesprochen. Hat die Bundesregierung in irgendeiner Form reagiert?
    Michalski: Nein! Die Bundesregierung hat nicht, zumindest nicht öffentlich reagiert. Wir wissen nicht, was hinter den Kulissen gesprochen wurde, aber die Tatsache, dass immer noch die Grenze dicht ist, zeigt, dass zumindest dann, wenn Gespräche stattgefunden haben, die zu nichts führten. Gerade jetzt am Wochenende hatten wir wieder den Fall, dass ein Flüchtlingslager nahe dieser Grenze beschossen worden ist, wahrscheinlich aus der Luft, und da mindestens 20 Leute umgekommen sind in einem Flüchtlingslager. Zivilisten, Frauen, Kinder, und das zeigt einfach, wie fahrlässig oder wie gefährlich und eigentlich auch im internationalen Rechtssinne höchst illegal diese Grenzschließung ist.
    Zagatta: Herr Michalski, wenn wir uns noch in Erinnerung rufen, welche Aufregung die damals von der AfD angezettelte Diskussion um Schüsse an der Grenze, um Schüsse auf Flüchtlinge ausgelöst hat in Deutschland, welche harschen Reaktionen dann auch aus der Koalition, kann denn die Bundesregierung da jetzt so einfach schweigen?
    Michalski: Nein! Die Bundesregierung muss jetzt tatsächlich die Türken dazu auffordern, diese Grenze zu öffnen und vor allem diese Schießereien da sein zu lassen, und zwar sofort. Denn man kann sich nicht hier um unsere eigenen Politiker kümmern oder über unsere eigenen Politiker aufregen, aber da, wo es in der Türkei passiert, wegschauen, weil ja das, was dort passiert, im Sinne hermetischer Abgrenzung, ja eigentlich im Sinne dieses EU-Türkei-Deals ist, der von vorne bis hinten nur kritisiert werden kann, und an diesem Beispiel sieht man mal wieder, wie verfahren die ganze Sache ist.
    "Man darf eine Grenze nicht völlig abriegeln"
    Zagatta: Darf denn die Türkei ihre Grenze nicht abriegeln? Darf man da auch Menschen, die vielleicht um ihr Leben fürchten, die Einreise verweigern? Oder ist das ein klipp und klarer Verstoß auch gegen internationales Recht?
    Michalski: Das ist ein klipp und klarer Verstoß. Das darf man nicht machen. Man darf seine Grenze schließen. Man darf auch eine Mauer bauen. Aber man darf sie halt nicht abriegeln, völlig abriegeln, sondern muss Leute, die in der Not sind, aufnehmen. Denn wenn man es nicht tut, ist das gleichgesetzt mit dem Abschieben von Leuten in gefährliche Gegenden, was auch international nicht erlaubt ist. Ob es jetzt Abschiebungen sind, oder ob ich die Leute nicht reinlasse ins eigene Land, und zwar Schutzsuchende, ist ein Vergehen gegen internationales Recht.
    Zagatta: Sind Sie denn da im Gespräch mit der Bundesregierung?
    Michalski: Ja, wir sind im Gespräch mit der Bundesregierung. Wir haben schon mit der Regierung darüber gesprochen und werden es auch demnächst wieder machen.
    Zagatta: Und wie bewerten Sie die Haltung? Wie bewerten Sie, dass da offenbar Schweigen herrscht oder keine Maßnahmen ergriffen werden, zumindest keine, die wir jetzt da mitbekommen würden? Wie bewerten Sie das?
    Michalski: Ich glaube, dass die Bundesregierung sich auf falsche Informationen verlässt, nämlich auf die Informationen der türkischen Behörden, und lieber mal unseren Bericht lesen sollte und dann entsprechend reagieren muss. Und ich kann Ihnen garantieren: Wir werden darauf achten, dass das auch passiert.
    Zagatta: … sagt Wenzel Michalski, der Deutschland-Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Herr Michalski, herzlichen Dank für dieses Gespräch.
    Michalski: Bitte sehr.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.