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Syrische Flüchtlinge in Berg-Karabach
Neues Leben hinter der Front

Vom Bürgerkriegsland in eine Konfliktregion: In Berg-Karabach bauen sich syrische Flüchtlingsfamilien ein neues Leben auf. In Häusern, die aserbaidschanische Familien Anfang der 1990er Jahre während des Krieges verlassen mussten. Mit der Ansiedlung der Syrer schafft die Regierung in Berg-Karabach Fakten in einer Region, auf die das Nachbarland Anspruch erhebt.

Von Naomi Conrad | 03.12.2016
    Zentrum von Stepanakert in der Region Bergkarabach, in der Mitte das Parlamentsgebäude mit Kuppel
    Siedelt die Regierung in Berg-Karabach gezielt Syrer in den umstrittenen Regionen an? In Aserbaidschan vermutet man das. (picture-alliance / dpa / Jenas Kalaene)
    Die enge Straße, die den Berg hinab führt, ist voller Schlaglöcher. Im Tal glitzern die Wellblechdächer von Ishkhandazor, einem winzigen Dorf. 100 Familien leben hier im Südwesten von Berg-Karabach. Über zwei Stunden dauert die Fahrt zur nächstgrößten Stadt, im Winter sind die Wege oft tagelang völlig abgeschnitten.
    Hayk Khatchataryan lebt in einem grauen Wohnblock. Er führt durch die winzige Küche in das Wohnzimmer: Ein karger Raum mit staubigen Fenstern, in der Ecke liegen ein paar arabische Schulbücher – die letzten Erinnerungen an sein früheres Leben in Syrien: an die Klinik, die er geleitet hat, sein großes Haus, und seine vielen Freunde und Verwandte. Kurz: Das "gute Leben", das mit einem Schlag beendet wurde.
    "Ich habe in meiner Klinik gearbeitet, als plötzlich die IS-Kämpfer hereingestürmt kamen. Sie haben mich gefragt, ob ich Christ sei. Dann haben sie mich mitgenommen. Vier ein halb Stunden lang haben sie mich gefangen gehalten. Sie wollten mich zwingen, zum Islam zu konvertieren. Sonst, haben sie gesagt, würden sie mich köpfen."
    Der armenische Christ weigerte sich – trotzdem ließen ihn die Männer gehen. Danach ging alles ganz schnell: Er packte seine Koffer und zog mit seinen drei Töchtern nach Berg-Karabach. Hier arbeitet er im Dorfkrankenhaus, ein einstöckiger Betonbau unweit von seiner Wohnung. 20 Flüchtlingsfamilien aus Syrien und dem Libanon leben in Ishkhandazor. Sie alle sind also vor dem Krieg geflohen – und ausgerechnet nach Berg-Karabach gekommen, einer winzigen, verarmten Republik im Dauerkonflikt mit Aserbaidschan.
    Eine Landkarte des Konfliktgebietes Berg-Karabach im Südkaukasus.
    Lage des Konfliktgebietes Berg-Karabach (picture alliance / dpa-Grafik)
    Leben von Tag zu Tag
    Seit 25 Jahren sitzen sich die Armeen in Schützengräben gegenüber, fast wöchentlich sterben Soldaten auf beiden Seiten. Im April eskalierte der Konflikt vier Tage lang zum Krieg und viele, darunter auch Khatchataryan, meldeten sich freiwillig zum Dienst an der Front. Warum also, ist er an diesen einsamen Flecken Land gezogen- und nicht nach Europa oder Amerika wie viele seiner Freunde?
    "Probleme? Nein, die fühle ich gar nicht. Wir leben einfach von Tag zu Tag. Und die Regierung hilft uns: Wenn man hierher kommt, dann geben sie dir einen Pass und ein Haus. Hier muss man nicht zusammen mit Afghanen und Pakistanern und anderen Menschen in einem Flüchtlingsheim leben, hier muss man keine Angst haben. Und wenn man arbeitet, dann kann man ein gutes Leben haben."
    Syrer, die sich außerhalb der Hauptstadt niederlassen, erhalten Land, ein zinsloses Darlehen und Häuser oder Baumaterialien von der Regierung. Eine Siedlungspolitik, mit der man Fakten schaffen will, glaubt Alexander Iskandaryan vom unabhängigen Caucasus Institute, ein Think Tank in Eriwan, der Hauptstadt Armeniens.
    "Man muss sich die Entwicklungen in den Regionen, die Aserbaidschan besetzt und Armenier befreit nennen würden, ganz genau anschauen. Dann sieht man zum Beispiel, wie viele Straßen dort gebaut werden, obwohl das Land eigentlich Gegenstand der Friedensverhandlungen ist und an Aserbaidschan zurückgegeben werden sollten. Die Karabacher aber bauen dort."
    Die Syrer, sagt Iskandaryan ein bulliger Mann mit einem dichten, weißen Bart, ziehen also genau in die Gebiete, die vor dem Krieg zu Aserbaidschan gehört haben und in einem Halbkreis um Berg-Karabach liegen. Eigentlich, so sieht es ein internationaler Plan vor, sollen sie irgendwann an Aserbaidschan zurückgegeben werden, in einem sogenannten "land for peace"-Deal. Ein Plan, allerdings, der ohne die Karabacher verhandelt wird – und dem sie wohl nie zustimmen werden. Wie reagiert Aserbaidschan darauf, dass nun ausgerechnet dort Syrer angesiedelt werden?
    "Sie sind wütend, klar. Und sagen, dass ihnen das Land gehört."
    Siedelt die Regierung gezielt Syrer an?
    Eine Lösung des Konflikts, sagt Iskhandaryan sei noch lange nicht in Sicht. Zwar sei Armenien, das die selbst ernannte Republik Berg-Karabach finanziell und militärisch erheblich unterstützt und in den internationalen Verhandlungen vertritt, möglicherweise zu Kompromissen mit Aserbaidschan bereit – Berg-Karabach allerdings nicht.
    Im weitläufigen Regierungspalast in Stepanakert, der winzigen Hauptstadt von Berg-Karabach, empfängt Artak Beglaryan in seinem großen, düsteren Büro. Der 28-Jährige ist der Sprecher von Premierminister Araik Harutjunjan. 100 Syrer gebe es hier derzeit, allesamt armenische Christen, gibt Artak Beglaryan lächelnd Auskunft. Als Fragen nach den umstrittenen Gebieten gestellt werden, wird er sofort ernst:
    "Wir verhandeln nicht über irgendwelche Gebiete. In unsere Verfassung steht ganz klar, dass alle Gebiete uns gehören – egal, ob es sich jetzt um Stepanakert oder irgendwelche anderen Regionen handelt. Das Land gehört uns und das ist unser Recht."
    Der Sitz des Präsidenten der nicht anerkannten "Republik Berg-Karabach" in der Hauptstadt
    Der Präsidenten-Palast in Stepanakert, der Hauptstadt der selbsternannten "Republik Berg-Karabach" (Deutschlandfunk / Sven Töniges)
    Siedelt die Regierung also gezielt Syrer in den umstrittenen Regionen an?
    "Wir bemühen uns, alle Gebiete in Karabach zu besiedeln, also alle Gebiete, die wir als strategisch erachten. Ich meine, für wirtschaftliche und soziale Zwecke. Aber selbst ohne diese Leute gehört uns das Land. Aber natürlich: Je mehr Leute dort leben, desto mehr Anspruch hat man auf das Land."
    In Ishkhandazor, dem kleinen Dorf zwischen den Hügeln, macht sich die Anwesenheit der Flüchtlinge bemerkbar: Ein libanesischer Unternehmer baut eine kleine Tankstelle, ein anderer plant eine Gaststätte. Viele von ihnen renovieren die bröckelnden Ruinen, aus denen Bäume und Büsche wuchern, die man überall in Berg-Karabach findet. Es sind die Häuser, die aserbaidschanische Familien zurückgelassen haben, als sie, wie Khatchataryan und seine Töchter, vor Krieg und Zerstörung geflohen sind. Der Arzt zuckt die Schultern.
    "Das interessiert mich nicht, ob das jetzt ein Haus ist, das einmal Aseris gehört hat. Das ist eine armenische Region."