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System von Sitten und Normen

Emile Durkheim, am 15.4.1858 in Epinal geboren und 1917 in Paris gestorben, gehört zu den Begründern der Soziologie. Er beruft sich auf den Frühsozialisten und Utopisten Saint-Simon und auf den Begründer des Positivismus Auguste Comte, der gleichfalls sozial engagiert war.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 14.04.2008
    Auch Durkheim, aus einer orthodox jüdischen Familie stammend sich aber dem Katholizismus zuneigend, orientiert sich sozial, gehört zu seinen Schülern auch der französische Sozialistenführer Jean Jaurès.

    Durkheim war Professor für Soziologie und Pädagogik in Bordeaux und an der Pariser Sorbonne. Sein wichtigstes Werk ist 1895 die "Regeln der soziologischen Methode". 1912 erscheint "Die elementaren Formen des religiösen Lebens". In ihm bringt er sein neues Verständnis von Soziologie voll zur Anwendung.

    Entspringt die Religion nicht der Gesellschaft? Marx nannte sie das Opium des Volkes. Für Sigmund Freud verkörpert sie das schlechte Gewissen. Nach Nietzsche vertritt das Christentum lebensfeindliche Werte der Schwachen und Kranken. Weite Teile der Philosophie in der Tradition des Rationalismus halten Religion für Irrtum. Dem gegenüber stellt der Rationalist Emile Durkheim in seinem 1912 erscheinenden Buch "Die elementaren Formen des religiösen Lebens" fest:

    Im Grund gibt es also keine Religionen, die falsch wären. Alle sind auf ihre Art wahr: alle entsprechen, wenn auch auf verschiedene Weisen, bestimmten Bedingungen der menschlichen Existenz.

    Im 19. Jahrhundert interessierte man sich primär für die Glaubensgehalte, die man häufig als irrational kritisierte, kaum für religiöse Riten. Erst um 1900 entdeckte man, dass Riten oder Feste eine Gesellschaft mehr zusammenhalten, als die damit verbundenen Glaubensvorstellungen - Weihnachten feiern auch die Atheisten. Für Durkheim präsentiert nicht der Glaube an ein höheres Wesen den Kern der Religion, sondern ein System von Sitten und Normen. Durkheim schreibt:

    An der Basis aller Glaubenssysteme und aller Kulte muss es notwendigerweise eine bestimmte Anzahl von Grundvorstellungen und rituellen Haltungen geben, die (. .) überall die gleiche objektive Bedeutung haben und überall die gleiche Funktion erfüllen. Diese beständigen Elemente bilden das, was in der Religion ewig und menschlich ist.

    Vor Durkheim betrachtete man frühe Religionen wie den Animismus, der die Natur durch Geister belebt sah, als primitiv magische oder irrational mythologische Vorstellungen. Diese müsse man verabschieden. Einzig der kühle rationale Protestantismus habe sich als fortgeschrittenste Religion davon gelöst. Derart entfalten sich im liberalen Verständnis zunehmend Spielräume für das Individuum.

    Für Durkheim dagegen befördert die Religion beim Individuum zurecht das Gefühl der Abhängigkeit, nicht das Gefühl der Freiheit:

    Ein Gott tatsächlich ist zuerst ein Wesen, das sich der Mensch in gewissen Zügen als sich selbst überlegen vorstellt und von dem er glaubt abzuhängen. Ob es sich um eine bewusste Persönlichkeit handelt, wie Zeus oder Jahve, oder um abstrakte Kräfte, wie die des Totemismus, im einen wie im anderen Fall glaubt sich der Gläubige zu bestimmten Handlungen verpflichtet, die ihm von der Natur des heiligen Prinzips auferlegt werden, mit dem er in Beziehung steht.

    Allgemeine Gültigkeit haben sittliche Normen nicht, weil das Individuum sie akzeptiert oder weil es sie als vernünftig anerkennt, wie es sich der Liberalismus vorstellt. Vielmehr verschaffen soziale Kräfte der Moral Geltung. Kollektive Emotionen, die sich beispielsweise in religiösen Riten ausdrücken, lassen Normen so wirken, dass sie das Individuum als allgemeingültig erfährt. So stellen Normen gesellschaftliche Strukturen dar, die den Menschen prägen. Durkheim:

    Die Gesellschaft verlangt, unter Missachtung unserer Interessen, dass wir ihr dienen, und unterwirft uns allen möglichen Zwängen, Entbehrungen und Opfern, ohne die das soziale Leben unmöglich wäre. So sind wir zu jedem Augenblick verpflichtet, uns Verhaltens- und Denkregeln zu unterwerfen, die wir weder gemacht noch gewählt haben und die manchmal gegen unsere tiefsten Neigungen und Instinkte gehen.

    Ein religiöses System von Bräuchen und Normen verbindet die Mitglieder einer Gesellschaft zu einer Moralgemeinschaft. Denn die religiösen Riten verstärken die kollektiven Gefühle und Vorstellungen, ohne die eine Gesellschaft nicht überleben kann. Die Religion ist somit primär für die Gesellschaft wichtig, nicht so sehr für das Individuum, stillt sie ein soziales, weniger ein psychisches Bedürfnis. Die Religion existiert nicht, weil der Mensch Gott braucht, sondern weil die Gesellschaft ein soziales Band benötigt. Daher gibt es für Durkheim auch keine falschen oder irrationalen Religionen. Folglich konzentriert sich Durkheim auf die Gesellschaft als Ganzes, tritt das Individuum in den Hintergrund, das sich der Gesellschaft unterordnen muss und von deren disziplinierenden Zwängen keineswegs bloß negativ belastet wird.

    Stattdessen - so Durkheim,

    übt diese hemmende Wirkung indirekt und auf überraschende Weise auf die religiöse und moralische Natur des Individuums eine positive Wirkung von höchster Bedeutung aus.

    Durkheim zielt auf die konkrete Wirkung, die die Religion in der Gesellschaft entfaltet. Hier schließt er an William James und den Pragmatismus an, für den es nicht sinnvoll ist, nach dem Wahrheitsgehalt der Religion zu fragen. William James versucht in seinem Buch über "Die Vielfalt religiöser Erfahrung" aus dem Jahr 1902 vielmehr die Wirksamkeit der Religion dadurch nachzuweisen, dass sie das Bewusstsein der Individuen ethisch prägt. Auch für Durkheim stellt die Religion eine soziale Angelegenheit dar, indem sie eine moralische Macht auf das Individuum ausübt und diesem dadurch beibringt, richtig zu leben. Durkheim schreibt:

    Die Gläubigen fühlen in der Tat, dass die wahre Funktion der Religion nicht darin besteht, uns zum Denken zu bringen, unser Wissen zu bereichern, unsere Vorstellungen zu ergänzen, die wir der Wissenschaft verdanken, Vorstellungen eines anderen Ursprungs und eines anderen Charakters, sondern uns zum Handeln zu bringen und uns helfen zu leben. Der Gläubige, der mit seinem Gott kommuniziert hat, ist nicht nur ein Mensch, der neue Wahrheiten sieht, die der Ungläubige nicht kennt: er ist ein Mensch, der mehr kann.

    Insofern unterscheiden sich auch frühe von modernen Religionen nicht. Durkheim untersucht in seinem Buch Die elementaren Formen des religiösen Lebens dieses Phänomen der Religion am Beispiel elementarer, das heißt grundlegender Formen des religiösen Lebens, also anhand von Glaubensvorstellungen vom Totemismus bis zum Begriff der Seele und der Gottesvorstellungen, sowie anhand von Ritualhandlungen vom Opferritus über Gedenkriten bis hin zu Sühneriten.

    Nicht das Individuum geht folglich dem Sozialen voraus, wie es sich der Liberalismus vorstellt, wenn für diesen sich Individuen zum gegenseitigen Nutzen zu einer Gesellschaft zusammenschließen. Nein, umgekehrt! Die Gesellschaft verbindet die Individuen zu höheren sozialen Zwecken der Gemeinschaftsorientierung, erscheint posthum 1928 noch Durkheims Schrift "Der Sozialismus". Daher bringt die Gesellschaft, nicht die Individuen, moralische Normen wie auch die Begriffe hervor, mit denen die Menschen die Welt verstehen. Die Gesellschaft konstituiert derart den Geist, die Strukturen, in denen sich die Individuen bewegen. Durkheim schreibt in "Die elementaren Formen des religiösen Lebens":

    Ein Begriff ist nicht mein Begriff. Ich besitze ihn gemeinsam mit anderen Menschen. Der Begriff ist eine wesentlich unpersönliche Darstellungsform: mit seiner Hilfe kommunizieren die menschlichen Intelligenzen. Wenn er allen gemeinsam gehört, dann ist er das Werk der Gemeinschaft. Wenn er den Stempel keiner Einzelintelligenz trägt, so deshalb, weil er eben von einer einzigartigen Intelligenz erarbeitet worden ist, in der alle anderen sich begegnen und von der sich alle anderen gewissermaßen versorgen.

    Soziologie versteht Durkheim daher als objektive Wissenschaft, die Kausalzusammenhänge zu analysieren hat. Die Soziologie - so einer ihrer herausragenden Begründer - betrachtet nicht nur die subjektiven Sichtweisen der Menschen. Als Wissenschaft, die vorführt, wie die Gesellschaft funktioniert, was diese stabilisiert, präsentiert sich die Soziologie als objektive Moralwissenschaft, die die aus den Fugen geratene Gesellschaft wieder kitten soll. Emile Durkheim schreibt:

    Damit scheint die Soziologie berufen zu sein, einen neuen Weg für die Wissenschaft des Menschen zu eröffnen. Von dem Augenblick an, als man erkannt hatte, dass über dem Individuum die Gesellschaft steht und dass sie kein nominales und vernunfterdachtes Wesen ist, sondern ein System von handelnden Kräften, wurde eine neue Art möglich, den Menschen zu erklären.

    In seiner Schrift "Der Selbstmord" zeigt er 1897, dass sich Menschen nicht primär aus wirtschaftlicher oder psychischer Not umbringen. Vielmehr haben sich die sozialen Bindekräfte aufgelöst, so dass Menschen keinen Halt mehr finden. Dann präsentiert sich der Selbstmord als Symptom einer moralischen Krankheit in einer Gesellschaft, die in Unordnung geraten ist. Doch Durkheim glaubt letztlich an die moralische Erneuerung der Gesellschaft durch den Rationalismus, zu dem die Soziologie Wesentliches beizutragen habe.

    Damit stellt sich an Durkheim anschließend die Frage, was eine moderne Gesellschaft, in der die Religionen an Bedeutung zweifellos verloren haben, an deren Statt zusammenhält: Wie drücken sich gemeinsame Gefühle aus? Hat die moderne Gesellschaft noch ein gemeinschaftliches Bewusstsein?

    Oder erklären Durkheims Ansätze heutige Entwicklungen der Wiederkehr des Religiösen in der Politik, welche Rolle beispielsweise der Katholizismus in Polen und der Protestantismus in Nordirland spielen?

    Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912) ,
    übers. v. Ludwig Schmidts, Nachwort v. Bryan S. Turner,
    Verlag der Weltreligionen, Frankfurt/M., Leipzig 2007