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Systematischer seelischer Mangel

Über Liebe und Familie schreiben viele. Aber die Fähigkeit, noch die kleinste Alltagssituation auf die Erlebnishöhe einer alttestamentarischen Tragödie zu heben, besitzt die israelische Schriftstellerin und Bibelwissenschaftlerin Zeruya Shalev auf ziemlich einzigartige Weise. "Bis ans Ende des Lebens" ist für Rezensentin Ursula März jedoch zu systematisch angelegt.

Ein Beitrag von Ursula März | 25.01.2012
    Das Faszinierende ihrer Romantrilogie, "Liebesleben", "Mann und Frau" und "Späte Familie", die vom Jahr 2000 bis 2005 erschien, ist ihre Überhitzung, ihre vulkanische Erzählsituation. Eine private, keineswegs unübliche Geschichte - eine leidenschaftliche Affäre beispielsweise oder eine sich anbahnende Ehescheidung - wird von innen mit einem derart hohen psychischen Druck aufgeladen, dass sie gleichsam explodiert und sich in einer ungezügelten Textlava über viele Buchseiten ergießt. In dieser Poetik der Erregung konnten viele Leser, vor allem Leserinnen, sich und ihre Erfahrungen wieder erkennen. Dafür waren den Romanen Zeruya Shalevs kleine Anleihen beim Pathos und beim Neurosenkitsch leicht zu verzeihen. Das ist in ihrem neuen Roman "Für den Rest des Lebens" etwas anders.

    Denn die Autorin geht hier einen heiklen Pakt ein: mit der Systematik. Ein Ordnungsprinzip des Romans ist die spiegelbildliche Verdopplung von Figuren und Motiven. Überdeutlich zeigt sich dies bei den erwachsenen Geschwistern Avner und Dina. Der Rechtsanwalt Avner wurde von der Mutter verhätschelt und verherrlicht, seine Schwester, die Historikerin Dina, von der Mutter ignoriert, dafür vom Vater bevorzugt. Mathematisch eindeutige Ödipalverhältnisse also. Auf der Gegenwartsebene erzählt der Roman, dessen Stoff insgesamt vier Generationen umfasst, nun vom Leiden der Geschwister an einer seelischen Leerstelle, von ihrer Sehnsucht und ihrer rabiaten Suche nach einem menschlichen Wesen, welches das Vakuum zu füllen verspricht. Avner jagt dem Phantom einer unbekannten Frau in einer roten Bluse hinterher, die er in einem Krankenhaus für einen kurzen Moment sah. Dina wiederum, zu alt, um noch ein eigenes Kind zu bekommen, ist besessen von der Idee, ein Kind zu adoptieren. Es ist ihr Phantommensch. Wie Avner setzt Dina für ihre Obsession alles aufs Spiel. Sie riskiert das Verhältnis zu ihrem Ehemann und zur sechzehnjährigen Tochter, die den Adoptionsplan für ausgemachten Schwachsinn halten.

    Beide Geschwister ziehen schließlich in die Wohnung der pflegebedürftigen, bettlägerigen Mutter Chemda Horovitz zurück. Ihre Lebenskrise treibt sie an den Ort, an dem ihr Unglück begann: in die Räume der Kindheit. Dort entstand, nach der Logik jedes familientherapeutischen Lehrbuchs, die Lücke. Logik aber kann einen Roman und seinen Stoff befallen wie ein Virus. Sie versetzt den Leser unversehens in die Rolle eines Buchhalters, der nachzurechnen und nachzuprüfen beginnt: Zieht sich das Lückenmotiv durch die ganze Erzählung? Durch alle Generationen der Familie? Ja. Dinas Sehnsucht nach einem kleinen Jungen beispielsweise wird damit erklärt, dass sie einst mit einem Zwillingspaar schwanger war, von dem nur die weibliche Hälfte überlebte, ihre heute sechzehnjährige Tochter Nizan. Das ist psychologisch so leicht nachvollziehbar wie eine Spur zu schematisch, zu gesetzmäßig für ein literarisches Werk. Zeruya Shalev entwirft ein plausibles Bild der Familie und der Liebe unserer Zeit, das Bild eines Flickwerks, eines provisorischen Nestbaus. Sie weiß, wovon sie erzählt. Sie weiß es womöglich sogar zu gut - aus ihren bisherigen Romanen. Und vielleicht liegt der Grund dafür, dass sich in ihrem neuen Roman "Für den Rest des Lebens" der Entwurf vor das Bild, das System vor die Geschichte schiebt, eben darin, im Ordnen bekannter und bereits bearbeiteter Themen. Der Vulkanausbruch, könnte man sagen, geht kontrolliert vonstatten. Die Lava ergießt sich in abgesteckten Bahnen. Das aber hat Folgen. Zum einen wirkt Zeruya Shalevs viel gerühmte Sprache mit ihren erhitzten, exzessiven Stilmitteln hier ein wenig künstlich, bisweilen attitüdenhaft. Zum anderen aber gerät die eigentliche Hauptfigur, nämlich Chemda Horowitz, ins Abseits. Als lebte sie in einer anderen literarischen Atmosphäre. Denn Chemda, die alte Mutter von Avner und Dina, die das Bett kaum mehr verlassen kann, entfernt sich mit dem Schwinden ihrer körperlichen Kräfte auch von denen des Verstandes. Die stärksten, intensivsten Textpassagen folgen der Verwirrung, dem dement-tagträumerischen Mäandern in Chemdas Kopf. In der Gegenwart kennt sie sich kaum mehr aus, verwechselt sogar die eigenen Kinder mit anderen Personen. Immer schärfer aber schneiden alte Schmerzen in ihre Erinnerung. Chemda wuchs in einem Kibbuz auf, schlief in einem Kinderhaus, erlebte die Eltern wie ferne Personen, die es gab und die sie zugleich vermisste. Auf diese Urerfahrung des seelischen Mangels hin ist die Logik der Romangeschichte entworfen. Was Chemda erlebte, gab sie an die eigenen Kinder weiter und so fort. Darin liegt, man muss es leider sagen, keine neue Erkenntnis, keine zumindest, die dem künstlerischen Potenzial Zeruya Shalevs angemessen wäre. Und je länger man in diesem Roman liest, desto mehr wünscht man sich, er wäre tatsächlich Chemdas chaotischem Bewusstsein entsprungen, nicht dem mathematischen Denken.

    Zeruya Shalev: "Bis ans Ende des Lebens". Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag 2012. 528 Seiten. 22,90 Euro.