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T. Sedlácek und D. Graeber: "Revolution oder Evolution"
Einstiegslektüre für Kapitalismuskritiker

Sie gelten als Stars der Kapitalismuskritik: der tschechische Ökonom Tomáš Sedlácek und der amerikanische Occupy-Vordenker David Graeber. In ihrem neuen Gesprächsband "Revolution oder Evolution" debattieren die beiden über die Zukunft des Kapitalismus - und wie man ihn wieder los wird.

Von Andreas Kolbe | 20.04.2015
    Der tschechische Ökonom Tomas Sedlacek
    Der tschechische Ökonom Tomas Sedlacek (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Kennen Sie den Homo oeconomicus? - Wirtschaftsstudenten lernen ihn in der Regel bereits im ersten Semester kennen. Der Homo oeconomicus ist ein Modell. In der klassischen Wirtschaftstheorie steht er für das idealtypische Verhalten des Menschen. Er ist bestrebt, seinen Nutzen zu maximieren. Er weiß über alles Bescheid. Und er handelt stets rational. Kurzum, der Homo oeconomicus ist der ausschließlich wirtschaftlich denkende Mensch. Das Problem ist nur: Keiner ist ihm je begegnet - und doch soll jeder von uns einer sein. So bringt Tomáš Sedlácek den Kern seiner Kapitalismuskritik auf den Punkt. Wirtschaft ohne Menschlichkeit, ohne Seele, ohne Emotionen - das sei die Ursache für die gegenwärtigen Fehlentwicklungen. Die klassische Ökonomie basiere auf völlig unrealistischen Annahmen. Dabei, so Sedlácek, sei nicht das Modell selbst das Problem:
    "In der Physik machen wir ständig Modelle, die nicht realistisch sind. Aber wir wissen, es sind Modelle. Wenn wir zum Beispiel den freien Fall eines Gegenstands berechnen, tun wir so, als gäbe es keinen Luftwiderstand. Das macht es einfacher. Aber wir dürfen das nicht für die Wahrheit halten. In der Ökonomie treffen wir auch Annahmen - zum Beispiel, dass Menschen egoistisch handeln. Aber solange das Annahmen sind, dürfen wir nicht behaupten, dass es die Wahrheit ist. Sonst kommt der Ökonom abends in die Kneipe zu seinen Freunden und behauptet: Der Luftwiderstand existiert überhaupt nicht. Wir dürfen also nicht sagen, dass die Menschen rational sind oder Egoisten."
    Evolution ist deshalb die Forderung von Tomáš Sedlácek: Die Ökonomie muss sich lösen vor der Vorstellung, eine Art Naturwissenschaft zu sein mit technischen Zusammenhängen und mathematischen Gesetzen. Sie muss menschlicher werden. Dem Wirtschaftssystem und seinen Institutionen will Sedlácek eine Seele einhauchen. Mythologie, Religion und Philosophie sind für ihn ebenso essenziell für das Verständnis von Wirtschaft. Der Kapitalismus, sagt er, sei nicht perfekt. Er muss deshalb weiterentwickelt werden. Aber am Ende sei es wie mit der Demokratie: Sie sei kein besonders gutes System, aber das Beste, das wir haben.
    Revolution ruft ihm da David Graeber entgegen. Der Ethnologe und Occupy-Aktivist bezieht in der Debatte deutlich radikalere Positionen. Graeber ist überzeugt, dass das gegenwärtige Wirtschaftssystem nicht mehr zu retten ist, dass es eines Tages zusammenbrechen wird, und dass wir uns besser jetzt schon Gedanken darüber machen, wie es durch ein besseres ersetzt werden kann. Die bestehenden Institutionen geißelt er als seelenlose Zombies, allen voran die Großbanken, die in der Krise mit Milliarden von den Steuerzahlern gerettet wurden.
    "Die größten Institutionen des Kapitalismus sind nun abhängig von der Unterstützung der Steuerzahler, letztlich von all jenen Dingen, die immer als sozialistisch gebrandmarkt wurden! Sie werden in diesem staatlich kontrollierten Hospital am Leben erhalten, streifen jedoch weiter nachts draußen umher und fressen alles auf, was sie kriegen können. [...] Ich glaube, ein Hauptgrund besteht darin, dass [ihnen] eines besonders gut gelungen ist, nämlich uns einzureden, dass es keine anderen Institutionen geben kann und dass es daher keine andere Möglichkeit gibt, als [...] sie aufrechtzuerhalten und sie weiterhin im Rahmen dieser Strukturen zu betreiben. [...] Diese Institutionen verhalten sich wie lebende Tote, denn sie sind in gewisser Weise am Ende Ihres Weges angelangt, aber niemand weiß, wodurch man sie ersetzen könnte." (S. 25)
    David Graeber bei der Vorstellung seines Buches "Schulden" in Berlin
    David Graeber bei der Vorstellung seines Buches "Schulden" in Berlin (dpa / picture alliance / XAMAX)
    Evolution oder Revolution? - Wer bei diesem Titel ein spannendes Streitgespräch erwartet, wird enttäuscht. Zu nah sind sich trotz aller Unterschiede die beiden linken Protagonisten. Zu groß sind ihre Gemeinsamkeiten, insbesondere wenn sie aktuelle Fehlentwicklungen analysieren und wenn sie argumentieren, warum es ein "Weiter so" nicht geben kann. Ähnlich sind sich Sedlácek und Graeber auch in der Art und Weise, wie sie die oft komplizierte Materie an den Leser bringen - und das macht das Buch dann doch wieder spannend zu lesen: mit vielen Bildern und Analogien aus dem Alltagsleben gewöhnlicher Menschen. So vergleicht Sedlácek beispielsweise unser Wirtschaftssystem mit einem Gesellschaftspiel:
    "Ist Ihnen aufgefallen, dass fast alle Spiele kommunistisch beginnen und kapitalistisch enden? Alle fangen mit dem gleichen Geld an, alles ist fair. Und bei jedem Spiel geht es darum, einen Monopolisten [zu schaffen]. Im Poker, im Monopoly, in jedem Spiel. Der Unterschied zwischen dem Spiel und dem Leben besteht darin, dass wir Monopoly spielen und am Ende sagen: 'Gut, du hast gewonnen, schön, gewährst du mir Revanche?' [...] Wie eine Art Erlassjahr, alles wird zurückgesetzt in einen [...] ausgeglichenen Zustand, und dann spielen wir noch einmal. Stellen Sie sich vor, Sie spielen einmal in Ihrem Leben dieses Monopoly-Spiel, Sie gewinnen es, und wir werden Ihre Diener für den Rest unserer Tage. Ich will nicht sagen, dass der Kapitalismus auf diese Weise funktioniert, aber es geht in diese Richtung." (S. 39)
    Entstanden ist das Buch bei einem Gespräch in München. Sedlácek und Graeber sind dort auf Initiative des Verlags in einem Café zu einer knapp vierstündigen Debatte zusammengetroffen, was ihnen den Vorwurf eingebracht hat, es sich doch recht leicht gemacht zu haben mit dem Schreiben eines gemeinsamen Buches. Doch gerade in der Gesprächsform liegt eine Stärke des Buchs: Die Sprache ist natürlich und leicht verständlich. Der geringe Umfang ist auch für wirtschaftliche Laien locker zu bewältigen. Genau das wollten die Autoren erreichen, sagt Sedlácek:
    "Mir sind wirklich alle Mittel recht, um Hürden zu überwinden zwischen der Ökonomie und den normalen Menschen. Wirtschaft darf keine langweilige mathematische Angelegenheit sein. Wirtschaft geht jeden etwas an. Und es wäre sehr hilfreich für die Debatte, wenn alle Leute etwas mehr von der Ökonomie verstehen."
    So gesehen ist der vorliegende Band ein Appetitanreger, der Lust macht, tiefer in die Diskussion über die Zukunft unseres Wirtschaftssystems einzusteigen. Wer sich in den Positionen der Protagonisten wiederfindet, mag geneigt sein, sich auch mit deren Hauptwerken zu beschäftigen, die zweifelsfrei tiefgründiger und umfassender sind. Für Nichtökonomen jedenfalls ist der Gesprächsband die perfekte Einstiegslektüre.
    Tomáš Sedlácek und David Graeber: "Revolution oder Evolution. Das Ende des Kapitalismus?"
    Hanser Verlag, 144 Seiten, 15,90 Euro.