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Tabu-Thema
Den Tod ins Leben holen

Es gelingt nicht vielen Journalisten, mit ihren Texten die Grenze der üblichen Halbwertszeit von einem Tag zu überwinden und sich in die kollektive Erinnerung zu schreiben. Doch Bartholomäus Grill, Afrika-Korrespondent des "Spiegel", ist einer von ihnen. "Um uns die Toten" ist alles andere als der übliche Sterbebett-Voyeurismus.

Von Christiane Florin | 14.07.2014
    Grabstätten auf dem jüdischen Friedhof in Warschau. (Undatierte Aufnahme).
    Grill macht sich die Auseinandersetzung mit dem Tod nicht leicht (picture alliance / dpa / Forum Jan Morek)
    Sachbücher übers Sterben sind die Gruselliteratur des Bildungsbürgertums. Der Tod ist längst kein Tabu mehr, sondern Bestsellerstoff. "Um uns die Toten" von Bartholomäus Grill profitiert von diesem Trend – und hebt sich doch wohltuend vom verkaufsfördernden Sterbebett-Voyeurismus ab.
    "Seltsam: Am Beginn des 21. Jahrhunderts scheint das kulturelle Unbehagen an der Inversion des Todes zuzunehmen; je mehr wir ihn verdrängen, je mehr wir die Trauer pathologisieren, desto stärker verspüren wir offenbar den Wunsch, uns mit allerletzten Fragen zu beschäftigen. Letztlich spiegelt auch das vorliegende Buch das kollektive Bedürfnis, den verdrängten, verbannten und scheinbar gezähmten Tod wieder näher ans wirkliche Leben heranzuholen."
    "Um uns die Toten" ist mehr als die Autobiografie eines Kriegsreporters. Vielmehr hat Grill eine Autophilosophie verfasst. Er erzählt von einer beharrlichen, subjektiven Suche nach allen möglichen Antworten auf allerletzte Fragen. Bartholomäus Grill ist neun Jahre alt, als seine schwerbehinderte kleine Schwester stirbt. Dass sie damals, Anfang der 1960er-Jahre, eines von vielen behinderten Babys ist, deutet er mit den Augen eines Kindes:
    "In meiner Vorstellung waren es die Contergan-Leute, die der Mutter ein dubioses Schlaf- und Beruhigungsmittel verabreicht hatten, die irgendwie mitschuldig waren am Los unserer Schwester. Als der Tod in einer Sommernacht endlich kam, erschien er uns als gütiger Erlöser und Befreier, als Freund Hein."
    Wer wie Grill in einer bayerisch-prallen katholischen Bilderwelt aufgewachsen ist, kann dem Tod nicht entrinnen. Es ist eine Welt mit Teufel, Fegefeuer und Hölle. Als kleiner Junge liebt er den Karfreitag, die abgedunkelten Kirchenfenster, das Heilige Grab mit dem leichenblassen Christus. Staunend blickt er auf seinen Kinderglauben von einst:
    "Ich zog aus der Sterbelehre den einfachen Schluss: Du kannst jederzeit von den Toten auferstehen - vorausgesetzt, du bist ein guter Katholik."
    Grill suchte das journalistische Abenteuer
    So schlüssig bleibt es nicht. Die Lehre der Kirche hält den Fragen des Jugendlichen nicht stand, Grill distanziert sich vom Katholizismus – dem Tod bleibt er nahe. Er experimentiert mit Drogen. Halluzinationen ersetzen die Heiligenbilder. Ein Stechapfel-Aufguss kostet ihn fast das Leben. "Wir Unsterblichen" ist das Kapitel überschrieben. Grill ist Jahrgang 1954, wie viele seiner Altersgenossen spielt er in den 70erm mit dem Leben und merkt erst im Rückblick, wie ernst das Spiel war. Grill wird Journalist, auch das nicht untypisch für enttäuschte Katholizismus-Liebhaber. Er meldet sich für Einsatzorte, die den Kollegen zu riskant sind. Er will das journalistische Abenteuer, wie er es nennt. An Weihnachten 1989 fährt er nach Rumänien. Dort sieht er Leichenberge, angeblich sind es Folteropfer des Ceausescu-Regimes. Hinterher erfährt er: Die Toten wurden aus der Leichenkammer des Kreiskrankenhauses gestohlen. Seine Lehre aus dem vermeintlichen Abenteuer:
    "Wir Journalisten sind fehlbar, wir können immer nur nach bestem Wissen und Gewissen recherchieren und versuchen, der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen. Jenseits dieser Erkenntnisse bleiben die grausigen Bilder aus Temeswar haften: die entstellten Leichen, ihre verzerrten Gesichter, die Würdelosigkeit, in der sie aus dem Leben schieden. Die Menschen starben elendiglich, der Tod hat sie nicht erlöst, sondern gequält bis zum letzten Atemzug. Und dann mussten ihre Leichname auch noch der Lüge dienen."
    1993 wird Grill Korrespondent der ZEIT in Afrika. Er erlebt das Ende des Apartheidsregimes in Südafrika, er sieht die Toten der Kriege, der Aids-Epidemie, der Hungersnöte. Eindringlich beschreibt er, wie er als Journalist funktionierte und als Mensch versagte. Im Juli 1994 fährt er durch Ruanda. Wer damals den Massenmord überlebt, den rafft die Cholera dahin. Eine sterbende Frau fleht den Reporter und den Fotografen an, ihr Wasser zu geben. Grill erzählt:
    "Der Fotograf nimmt das Letzte, was sie hat – das Bild von ihrem Tod. Auf dem Foto wird später ihr schmerzverzerrtes Gesicht zu sehen sein, das zerschlissene gelbe Kleid mit den roten Blumen, der verrotzte kleine Junge, der seinen Kopf kaum noch halten kann und sich weinend an seine Mutter lehnt."
    Porträtbilder der Opfer des ruandischen Völkermords.
    800.000 Menschen - die meisten von ihnen Tutsi - starben 1994 im ruandischen Völkermord. In Kigali erinnert ein Museum an die Opfer. (dpa / Wolfgang Langenstrassen)
    Als Kriegs- und Krisenreporter hat sich Grill gegen solche Einzelschicksale immunisiert. Doch der professionelle Panzer versagt in Ruanda, er fragt sich:
    "Warum habe ich den verzweifelten Jungen nicht einfach mitgenommen und zum Waisenheim von Ndosho gebracht? Das Bild dieses Kerlchens lässt mich bis heute nicht mehr los. Ich habe versucht, den Tod hinter mir zu lassen- und bin vor dem Leben davon gelaufen."
    Der Tod in der eigenen Familie
    Den Tod hinter sich lassen – das funktioniert erst recht nicht in der Familie. Sein Bruder Urban wird unheilbar krank, der 46-Jährige konfrontiert Bartholomäus Grill mit dem Satz: "Nächsten Sonntag will ich in der Schweiz sterben". Grill ringt mit sich. Darf man sich das wünschen? Darf man den Wunsch erfüllen? Schließlich fährt er mit in die Schweiz, in einem Hotelzimmer nimmt der Bruder die tödliche Medikamentenmischung. "Er hat den Krebs besiegt, er hat die Ketten seines Leidens gesprengt", kommentiert Grill den Moment, an dem der Bruder einschläft. Das Wort "sterben" benutzt er hier nicht.
    Die Botschaft ist eindeutig, dennoch propagiert der Autor nicht plump "Mein Tod gehört mir". Er sucht geradezu den Widerspruch. Im Buch dokumentiert ist seine harte Auseinandersetzung mit dem Philosophen Robert Spaemann. Der verurteilt zwar nicht den Bruder, lehnt aber ein allgemeines Recht auf Selbsttötung ab.
    Grills Gedanken- und Szenensammlung ist ein Glücksfall, weil sie keine letztgültigen Antworten vortäuschen. Der Tod kommt als Freund und Erlöser, aber auch als Feind und Mörder. Grill maßt sich nicht an, dem Leser die Angst zu nehmen. Wütend rechnet er mit Ratgebern zum sanften Sterben ab, infantiles Heiapopeia sei die gerade in Kirchenkreisen beliebte Rede vom Glück des Sterbens und dem Geschenk des Todes.
    Grills Sprache dagegen lullt nicht ein, sie ist kraftvoll, wach und lebendig. In der aktuellen Debatte um den assistierten Suizid hat so viel Todesklugheit gerade noch gefehlt.
    Bartholomäus Grill: "Um uns die Toten. Meine Begegnungen mit dem Sterben".
    Siedler Verlag, 224 Seiten, 19,90 Euro.