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Tänzerische Auseinandersetzung mit Tanzklassikern

Zur Musik von Johannes Brahms und Tanzklassikern des 20. Jahrhunderts inszeniert Martin Schläpfers seinen Schwanensee. Der ganze Abend war wie ein Spaziergang durch einen Fliedergarten, traumhaft und mit berauschender Energie erfüllt.

Von Wiebke Hüster | 03.02.2013
    Wenn ein Schauspieler nicht spielt, wird er nicht schlechter dadurch. Er spricht weiterhin, empfindet Kälte, Leidenschaft oder Langeweile, liest Bücher, geht ins Kino und singt im Bad - kurz: Er lebt. Wenn er das bewusst tut, wird er keine Konditionsprobleme haben beim nächsten Engagement. Niemand wird sagen können, ob er pausenlos gearbeitet hat oder Zeit hatte, tagsüber Schach zu spielen. Sänger und Musiker üben für sich und begegnen sich dann erst in der Probe.

    Tänzer aber sind anders. Sie müssen jeden Tag ins gemeinsame Training gehen, sechs Tage die Woche. Sie brauchen die Kraft, die ihnen die tägliche Klasse und die Proben geben, sonst wird die Verletzungsgefahr zu groß. Sie brauchen das Adrenalin und die Endorphine, die ihre Körper ausschütten, wenn es ihnen gelingt, etwas so zu tanzen, wie es in ihrer Imagination aussehen und sich anfühlen sollte. Sie brauchen die Bühne, um nicht nur zu wissen, sondern immer wieder aufs Neue zu erfahren, warum sie täglich die Hand wieder auf die Ballettstange legen müssen.

    Das bedeutet, dass ein Ballettdirektor wie Martin Schläpfer an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg große Verantwortung in mehreren Hinsichten trägt. Er sorgt dafür, dass er selbst und seine Ballettmeister 48 Tänzer nicht nur in Form halten, sondern dazu ermutigen, über sich selbst hinauszuwachsen. Sie dürfen daher nicht unterfordert sein, aber auch nicht zu angestrengt vor dem langen Arbeitstag im Ballettsaal, der nach dem Morgentraining beginnt. Wann muss welcher Tänzer welche Rolle bekommen, welche Gastchoreografen sollen Uraufführungen erarbeiten, welche Stücke des Repertoires sind für die Spielplandramaturgie von Bedeutung und machbar, welche Kompositionen bieten sich für die Zusammenarbeit mit den Duisburger Philharmonikern und den Düsseldorfer Symphonikern.

    Martin Schläpfers neuer Ballettabend "b.14" bietet meisterhafte Lösungen für diese Aufgaben und Probleme. Im bis zum letzten Platz gefüllten Theater Duisburg erhob sich am Ende ein tief bewegtes, durch vier ganz unterschiedliche aber doch miteinander kommunizierende Werke geführtes Publikum von den Sitzen, um dem Ballettdirektor und seiner brillanten Compagnie mit stürmischem Applaus zu danken. Schläpfers eigener Uraufführung am Ende des Programms war es zuvor 40 Minuten lang mit aufmerksamstem Schweigen gefolgt.

    Das Orchester unter Axel Kober spielte Johannes Brahms' Sinfonie D-Dur opus 73 mit leuchtender Heiterkeit, ließ in seiner Energie im langen, ersten Satz nie nach, kostete das Adagio des zweiten Satzes genießerisch aus, begleitete das vollkommen verblüffende Solo der Ballerina Marlucia do Amaral zum Allegro des dritten Satzes zart und genau und führte schließlich das Finale in eine konzentrierte Stimmung willig gebändigten Temperaments.

    Satz für Satz verstand man müheloser, was der Choreograf damit meint, dieses Werk sei sein "Schwanensee". Er erweitert hier seine Auseinandersetzung mit der Neoklassik George Balanchines und Hans van Manens um eine Reverenz vor allem an die Schönheiten klassischer Pas de deux und des Unisono-Tanzens eines großen Corp de ballets auf Spitze.

    Man kann Keso Dekkers abstrakter Landschaft auf dem Aushang und den korrespondierenden schwarzweiß gemusterten Kostümen ablesen, dass die märchenhafte Unterscheidung in Gut und Böse, weiße Schwäne und schwarze, in der Kunst unmöglich und irrelevant geworden ist.

    Nicht aber die Frage nach der Zukunft des Tanzes, die auf den Schönheiten seiner Vergangenheit aufbaut.

    Walzer von Johannes Brahms erklangen von Dirk Wedmann auf der Bühne gespielt zu Frederick Ashtons neunminütiger Erinnerung an die wilde Ikone des modernen Tanzes, Isadora Duncan. Und noch nie hatte man nach Lynn Seymour selbst, für die das Werk geschaffen wurde, jemanden als so leidenschaftliche Wiedergeburt von Duncan erleben können wie hier Camille Andriot.

    Ähnlich intensiv für die Gegenwart belebt wurden zwei Choreografien des hier zu Unrecht wenig gespielten Briten Antony Tudor: der Pas de deux "The Leaves are fading" und sein Meisterwerk "Jardin aux Lilas", wunderschön neu ausgestattet von Thomas Ziegler. Eigentlich war der ganze Abend wie ein Spaziergang durch einen Fliedergarten, traumhaft und mit berauschender Energie erfüllend.