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Tafeln der Vergangenheit
Volksspeisung und Kaffeeklappen

Schwere körperliche Arbeit, lange Schichten und wenig Lohn gehörten bei einfachen Arbeitern zu Beginn der Industrialisierung zum Alltag. An ein warmes Essen während der Arbeit war nicht zu denken. Mit der Gründung von sogenannten Kaffeeklappen ab Mitte des 19. Jahrhunderts besserte sich die Situation der Arbeiter.

Von Ursula Storost | 14.01.2016
    Hafenarbeiter - sogenannte Schauerleute - an Bord eines Frachters im Hamburger Hafen machen Pause
    Hafenarbeiter in Hamburg: Nach der Arbeit in die Kaffeeklappe (dpa/picture alliance/HHLA)
    Karl Hinrich Altstaedt steht am Fenster des Hamburger Hafenmuseums. Er blickt über Kais und Kräne. 1955 fing der heute 76 Jährige als Quartiersmann im Hafen an. Gut erinnert er sich an die damaligen Speise- oder Kaffeehallen. Im Volksmund einfach: Kaffeeklappen.
    "Der Begriff war Kaffeeklappe oder wir gehen in die Klappe, das war einfach gängiger. Hier im Schuppen 50 vor der Tür, da war die Klappe. Das hieß, wo trefft ihr Euch? Ja, Klappe 50. Da wusste jeder Bescheid."
    In der Kaffeeklappe traf man sich nach Feierabend zum Kartenspielen oder in den Pausen zum Essen, sagt Karl-Hinrich Altstaedt. Die Arbeiter kannten jede Klappe und ihre Gerichte.
    "Eine Kaffeeklappe, die bautechnisch schön war, war an Schuppen 23. Rinderrouladen, die schmeckten sehr gut. So dass man immer wusste, aha, kuckt man schon, was habt ihr heute zu essen."
    Idee der Kaffeeklappen: nahrhaftes Essen für wenig Geld
    Die Speise- und Kaffeehallen entstanden aus der Tradition der Armenspeisung, weiß der Historiker Dr. Bernd Pastuschka. Der Lehrbeauftragte an der Hamburger Hafencity Universität hat ein Buch über die Geschichte der Kaffeeklappen verfasst.
    "In der Armenspeisung war es ja so, dass man an irgendeinen Ort gegangen ist, wo Suppe oder irgendwas ausgegeben worden ist und dann hat man sich angestellt und es wurde durch eine Tür oder ein Fenster oder eine Klappe gereicht."
    Seit Beginn des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich weite Teile des Bürgertums mit der sozialen Frage, mit den Missständen, die mit der industriellen Revolution einhergingen. Wohltätige Bürgervereine kümmerten sich auch um die verelendeten Arbeiter. Sie errichteten die Speise- und Kaffeehallen. Ein Ziel: nahrhaftes Es-sen für wenig Geld.
    "Weil man gesagt hat, also wenn Arbeiter jetzt für ein Entgelt arbeiten, dann sollen sie sich von diesem Geld auch ernähren können. Und nicht das beschämende Gefühl des Beschenktwerdens. Deshalb hat man gesagt, man muss eine Speise erfinden, in Anführungszeichen, die bezahlbar ist."
    Unternehmen fühlten sich nicht verantwortlich
    Vom Staat oder von den Firmen wurden die Speisehallen kaum unterstützt. Die Unternehmen fühlten sich für die Arbeiter gar nicht verantwortlich, ergänzt der Kunsthistoriker Dr. Ralf Lange vom Hamburger Speicherstadtmuseum. Beispiel Freihafen.
    "Das waren Tagelöhner oder heute würde man modern sagen Jobber. Ein Hafenarbeiter hat so lange nur Arbeit gefunden, wie ein Schiff beladen oder gelöscht wurde. Das heißt, es gab im Hafen gar keine Arbeitgeber, die sich für die Hafenarbeiter wirklich verantwortlich fühlen konnten. Und deswegen gab es auch keine Betriebskantinen."
    Aber es ging den wohltätigen Bürgern nicht nur um die Ernährung der Arbeiter sondern auch um Abstinenz. Nach englischem Vorbild gründete sich in Deutschland ein Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke. Besonders in der Unterschicht, war Trunksucht an der Tagesordnung, weiß Bernd Pastuschka.
    "Und da hat man sich überlegt, wie bekommen wir das hin, den Alkohol einzudämmen, wir müssen die erziehen. Und die Erziehung geht eben so, dass man sagt, man muss denen einen Ort geben, wo sie hingehen können, der tagsüber geöffnet ist, der warm ist, wo man was zu essen kriegt, vernünftige Speisen, bezahlbar, wo es was zu lesen gibt, Dominospiele wurden angeboten und Vorträge, Erbauungsvorträge.
    Geführt wurden die ersten Kaffeeklappen ehrenamtlich von sogenannten Mamsells, jungen Frauen aus gutbürgerlichem Hause, erzählt Ursula Riechenberger, Leiterin des Hamburger Hafenmuseums. Ein bürgerliches Engagement das nicht ganz selbstlos war.
    "Bloß keine Revolution, kein Umsturz, uns geht es gut. Und wir wollen auch, dass es den Menschen, die hart dafür arbeiten, dass sie ihr Leben irgendwie fristen können, nicht in so schönen Umständen, wie wir das haben. Aber da wollen wir ne gewisse Unterstützung leisten."
    Zweiklassengesellschaft - auch in der Kaffeehalle
    Die Klassengesellschaft fand allerdings auch in den Speisehallen ihren Niederschlag, so Ralf Lange vom Hamburger Speicherstadtmuseum.
    "Es gab nebenbei noch ein Extrazimmer für die Schuppenvorsteher und für Kaufleute, städtischen Beamten, die dann auch mal was im Hafen zu tun hatten. Und da wurde man ganz anders bedient, da sah es gepflegter aus und da durfte man sich mittags auch mal ein Glas Wein zum Essen bestellen. Und das hat den Hafenarbeitern noch mal richtig unter die Nase gerieben, dass sie eigentlich für diese Leute zur zweiten Garnitur zählen."
    Entsprechend nahm kaum jemand Anstoß an den unwürdigen Wohnverhältnissen der Arbeiterfamilien.
    "Man muss sich vorstellen, die Leute lebten in völlig überbevölkerten Wohnungen, wo nach Feierabend die Kinder schrien und die Wäsche auf dem Herd dampfte und die Mutter noch an der Nähmaschine saß und Weißwäsche genäht hat, um ein bisschen was dazu zu verdienen. Und die Männer, die wollten auch ein bisschen Privatraum haben, ein bisschen Leben für sich und sind dann in die Kneipen gegangen.
    Die Speise- und Kaffeehallen mit ihrer Geselligkeit und dem preiswerten, frisch gekochten Essen wurden für viele Arbeiter tatsächlich zu Alternative. Dafür ließ man sogar die Finger vom Schnaps, resümiert Ralf Lange. Zumal es mit fortschreitender Industrialisierung kaum noch Möglichkeiten gab, sich am Arbeitsplatz ordentlich zu verköstigen.
    "Bevor es die Kaffeeklappen gab, da brachten dann die Frauen das Mittagessen an Bord der Schiffe. Später als der Hafen immer größer wurde, nahm man sich dann Getränke oder Speisen mit. Man hatte meist das Problem, dass man sie nirgendwo warm machen konnte."
    Aufenthaltsräume, Toiletten oder Waschräume existierten für Arbeiter damals gar nicht, ergänzt die Kulturwissenschaftlerin Ursula Riechenberger. Sozialräume und weitere Sozialleistungen wurden erst Anfang des 20. Jahrhunderts zum Standard. Auch in Hamburg zeigte sich, " dass dort mit der Gründung des GHB, des Gesamthafenbetriebs, auch eine Einrichtung geschaffen wurde, dass diese Tagelöhner nicht mehr nur von Tag zu Tag ihren Lohn bekommen haben, sondern in Phasen wo sie nicht beschäftigt werden konnten trotzdem Lohn und Gehalt bekommen haben. Das ist eine ganz wichtige soziale Errungenschaft gewesen. Und hier in Schuppen 50, wo jetzt das Hafenmuseum ist, ist neben der Kaffeeklappe auch eine wichtige Neuerung gewesen, dass es Duschen gab und Umkleideräume.
    Erste Forschungen zur ausgewogenen Ernährung
    Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stellten die Arbeiter mehr Forderungen und demonstrierten in Streiks ihre Stärke. Man kann beobachten, dass sich mit wachsendem Klassenbewusstsein auch die Architektur der Kaffeeklappen änderte, so Ralf Lange. Aus den anfänglich trostlosen, fabrikähnlichen Gebäuden wurden kleine Schlösser.
    "Mit Türmchen, mit neogotischen Formen. Und dann nach der Jahrhundertwende da haben wir sehr schöne, schlichte Klinkerbauten mit hohen Satteldächern, weißen Sprossenfenstern. Und wenn man sich die Pläne ankuckt, da könnte man gar nicht denken, dass es ne Kaffeeklappe ist sondern da denkt man durchaus an eines der schönen Landhäuser in Othmarschen oder im anderen Elbvorort."
    Etwa zur gleichen Zeit begannen Mediziner wissenschaftlich über ausgewogene Ernährung zu forschen, sagt der Historiker Bernd Pastuschka.
    "Also braucht man überhaupt nur Fett oder braucht man auch Kohlenhydrate. Weil man ja immer gedacht hat, wenn viel Fett drin ist, dann reicht das schon. Und dann hat man festgestellt, die brauchen auch Hülsenfrüchte und Proteine. Das waren die Anfänge, wo man dann überhaupt festgestellt hat, zu einer modernen Ernährung gehört was anderes."
    Und, ergänzt Ursula Riechenberger, auch exotische Nahrungsmittel aus Übersee waren jetzt für eine breitere Masse verfügbar. Zum Beispiel Bananen und Apfelsinen.
    "Die Rolle von Vitamin C wurde erforscht. Und in diese Gemengelage hinein passt genau dieses Thema Volksküche. Dass es auch darauf ankommt eine vielseitige Ernährung zu haben mit Ballaststoffen, mit Vitaminen, die eine lange Gesundheit ermöglicht."
    Erkenntnisse, die in den Speisehallen aufgegriffen und umgesetzt wurden. Zum Beispiel beim Hannoveraner Industriellen Georg Egestorff, der seinen Arbeitern schon eine betriebseigene Speisehalle zur Verfügung stellte, erzählt Bernd Pastuschka.#
    "Er hat gesagt, wenn ich schon meinen Arbeitern die Kantine hinstelle oder die Speisehalle, dann möchte ich auch ein Maximum rausholen. Das heißt, ich will denen ein Essen geben, was sie befähigt, bei mir zur Arbeit zu gehen und die Schicht durchzuhalten. Und gleichzeitig das so kostengünstig hinzukriegen, dass es mich keinen Cent mehr kostet als nötig ist, um ihre Arbeitskraft zu erhalten."
    Ob in Hannover, Berlin oder Hamburg. Kraft brauchten die Arbeiter im Kaiserreich, so der Kunsthistoriker Ralf Lange. Ein Arbeiter schuftete oft rund um die Uhr.
    "So ein Schauermann, der hat manchmal gearbeitet, bis ein Schiff beladen oder gelöscht war. Der hat manchmal auch zwei Schichten hintereinander gekloppt. Und wenn man so lange arbeitet, dann muss man auch vor Ort vernünftig versorgt werden."
    In den neunzehnhundertsechziger Jahren wurden die Speise- und Kaffeehallen abgewickelt. Ersetzt wurden sie durch werkseigene Kantinen, Würstchenbuden oder das Schnellrestaurant an der Ecke. Aber genügend und gesunde Ernährung für alle, das ist bis heute ein Thema, resümiert der Historiker Bernd Pastuschka und verweist auf die über 900 gemeinnützigen Tafeln in Deutschland.
    60.000 Ehrenamtliche, die heute arbeiten in der Tafel, weil 1,3 Millionen Menschen auf die Tafel angewiesen sind. In Deutschland. In der reichsten Nation der Welt.