Donnerstag, 25. April 2024

Tag 10
Cannes klingt aus

Zum Ende des Festivals spielt der Tod auf. In zwei Filmen. Michael hat in Guillaume Niclouxs Film "Valley of Love" seine Eltern nach Kalifornien ins Death Valley eingeladen. Die Eltern haben sich zwar schon vor langer Zeit getrennt, aber in seinen Briefen bittet er sie, dennoch zu kommen, zu einer ganz bestimmten Zeit, mehrere Tage lange, um einen detaillierten Besichtigungsplan der großartigen Wüstenlandschaft abzuarbeiten.

Von Christoph Schmitz | 22.05.2015
    Szene aus dem Film "Valley of Love" von Guillaume Nicloux mit Isabelle Huppert (l.) and Gerard Depardieu
    Szene aus dem Film "Valley of Love" von Guillaume Nicloux mit Isabelle Huppert (l.) and Gerard Depardieu (picture alliance / dpa / Cannes Film Festival )
    Die Eltern, Isabelle (Isabelle Huppert) und Gérard (Gérard Depardieu), reisen in die kalifornische Gluthitze und folgen dem Plan ihres Sohnes, eines Fotografen, obwohl sie wissen, dass Michael schon längst tot ist. Sechs Monate zuvor hat er sich das Leben genommen und in seinen Abschiedsbriefen angekündigt, dass sie ihm im Death Valley wieder begegnen werden. Niclouxs Film erzählt nun die Begegnung der Eltern, die sich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen haben, wie sie ihr Leben Revue passieren lassen, wie sie darüber nachdenken, was sie als Eltern richtig und falsch gemacht haben.
    Die Anspannung wächst, als sich seltsame Dinge ereignen. Isabell glaubt, jemand sei in ihrem Hotelzimmer gewesen und habe sie berührt, Gérard hört in der Wildnis eine Stimme, die ihn ruft, er sieht sogar jemanden davonlaufen. Soll das Michael gewesen sein, der wiedergekehrte Tote? Oder fantasieren die Eltern nur? Der Film lässt es offen. Auch was ein seltsamer Hautausschlag zu bedeuten hat, den die Mutter an ihren Fußknöcheln, den Vater an den Händen befällt.
    Niclouxs Film lebt von der unbarmherzigen Landschaft und ihrer lebensfeindlichen Ödnis. Und den vom Leben gezeichneten Körper seiner Protagonisten: Hupperts spröde Gesichtszüge, Depardieus aus allen Nähten platzender und asthmatischer Leib. Die Trauer über die Zerbrechlichkeit und Endlichkeit des Lebens spricht aus diesem Film. Und die Frage nach dem Tod. Eine unbeantwortete Frage, wie die der Musik, die der Regisseur für seine Geschichte ausgewählt hat, Charles Ives Komposition "The Unanswered Question".
    "Chronic" von Michel Franco
    Auch der Mexikaner Michel Franco erzählt in "Chronic" vom Tod und einem Krankenpfleger, der Sterbenskranke begleitet. Aber im Focus steht weniger das Lebensende, sondern der Pfleger, David. Verschlossen, nüchtern, hingebungsvoll gespielt von Tim Roth. David, ein Mann mittleren Alters, geht in seiner Tätigkeit vollkommen auf. Jeder Griff sitzt, jede seiner Reaktionen auf die Schmerzen, Wünsche und Ängste seiner Patienten ist immer die richtige. Und doch ist etwas Rätselhaftes um diesen perfekten Pfleger, der freiwillig gerne auch nach einer Tagschicht eine Nachtschicht dranhängt. Und nach und nach spürt der Zuschauer, dass David ein irgendwie leerer Typ ist, dass er gar keinen Charakter, keine Persönlichkeit, keine individuellen Züge hat, sondern dass er immer nur das reflektiert, was seine Patienten ihm an Eigenem vorgeben.
    David ist ein Mann ohne Eigenschaften. Um jemand zu sein, braucht er die Identitäten seiner Patienten. In Gesprächen etwa mit Fremden an einer Bar befragt, was er denn im Leben so treibe, erzählt er die Biografie seines aktuellen Kunden. Mühsam ist "Chronic" von Michel Franco anzusehen. Die Notwendigkeit der Geschichte erschließt sich nicht so recht. Überraschend ist am Ende nur Davids plötzlicher Tod.
    So endet der Wettbewerb in diesem Jahr recht traurig. Morgen gibt es noch eine Verfilmung von Shakespeares "Macbeth" in der Regie des Australiers Justin Kurzel, ein Kostümfilm allem Anschein nach. Das 11. Jahrhundert wird heraufbeschworen. Viel gesehen haben wir also in den vergangenen zehn Tagen, Interessantes, Merkwürdiges, Gescheitertes, Berührendes, Ärgerliches, Sinnloses, Schönes. Jetzt muss sich die Jury den Kopf über die Goldene Palme zerbrechen. Am Sonntagabend wird sie den Gewinner küren.
    Ein herausragender Jahrgang war Cannes 2015 nicht. Umwerfende Arbeiten wie "Blau ist eine warme Farbe" von Abdellatif Kechiche, 2013, "Liebe" und "Das weiße Band" von Michael Haneke, 2012 und 2009, oder "The Tree of Live" von Terrence Malick, 2011, gab es diesmal wie auch im letzten Jahr leider nicht. Über die Filme, die mir am besten gefallen haben, habe ich berichtet. Und so verabschiede ich mich von der Côte d'Azur, wo wieder die Sonne scheint und der Himmel in einem so unvergleichlichen Blau leuchtet, dass es schon fast wehtut. Meinen Bloglesern danke ich herzlich!