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Tagebuch - Mittwoch, 29. März

Tanger ist dreckig, laut, heruntergekommen. An fast jeder Ecke Prostituierte, Drogenabhängige, Straßenköter. Aber die Stadt lebt. Noch nach 22 Uhr sind die Straßen voll. Hier waren lange die billigen Hotels besetzt mit Algeriern, Nigerianern oder Senegalesen, die von den Stränden der Umgebung aufbrachen ins gesegnete Europa. Viele kamen nie an, doch niemand zählt die Opfer der Pateras, der oft seeuntüchtigen Boote, auf denen die Menschen versuchen, nach Tarifa oder Algeciras überzusetzen.

Von Rüdiger Maack | 30.03.2006
    In Tanger im Norden Marokkos haben viele Illegale zum letzten Mal afrikanischen Boden unter den Füßen. Viele werden hier zum letzten Mal gesehen. Seit Jahren rüstet die spanische Küstenwache auf. Mit moderner Elektronik wird der Abschnitt zwischen Algeciras und Tarifa überwacht. Die Grenzanlagen der beiden spanischen Exklaven in Nordmarokko, Ceuta und Melilla, gleichen der Mauer, die einst West-Berlin vom Osten trennte. Erst im vergangenen Herbst wurde hier auch scharf geschossen: Mindestens 14 Menschen kamen dabei ums Leben. Die Grenzer fühlten sich bedroht: Hunderte und am Schluss mehr als tausend Menschen hatten Nacht für Nacht versucht, mit selbst gebauten Leitern die Zäune und Wälle zu überwinden.

    In zwei Lagern – Gourougourou und Ben Younech – hatten Hunderte im Freien campiert, nach Nationalitäten geordnet, mit Gruppensprechern und Gemeinderäten organisiert. Nach den tödlichen Zwischenfällen an der Grenze gab es im ganzen Land eine Großrazzia: Gourougourou und Ben Younech wurden dem Boden gleichgemacht, hier und im Rest des Landes wurden Tausende Illegale verhaftet und in der Wüste ausgesetzt. Erst nach internationalen Protesten sammelten die marokkanischen Behörden die Überlebenden wieder ein und flogen sie per Luftbrücke nach Westafrika zurück.

    Doch die Westafrikaner stellen hier im Norden Marokkos nur einen Bruchteil derer dar, die nach Europa übersetzen wollen. Europa ist in Tanger überall präsent, und es sind zumeist Marokkaner, die versuchen, nach drüben zu gehen.

    In der Innenstadt gibt es ein Café, das heißt Schengen. Wer auf UKW Radio hört, bekommt nicht nur marokkanische, sondern auch spanische und portugiesische Sender zu hören - und ein paar Kilometer außerhalb der Stadt auch einen deutschen. Die Armenviertel Tangers schwellen seit Jahren an: Immer mehr Marokkaner kommen hierher. Sie suchen keinen Arbeitsplatz, sondern eine Möglichkeit, nach Europa überzusetzen. Sie verstecken sich in Containern oder Kühlwagen, unter Lastern oder in Kofferräumen von Autos. Menschenrechtler berichten von Kindern, 12- bis 15-Jährigen, die von ihren Eltern auf dem Land abgehauen sind und schon seit Jahren nach einer Möglichkeit suchen, nach Spanien zu gelangen. Ihre Familien wollen sie nicht wieder zurück haben. Sie sind oft froh, ein Kind weniger ernähren zu müssen. Auf den Straßen Tangers betteln diese Kinder und schnüffeln Klebstoff. Das hilft gegen den Hunger.

    Viele afrikanische Emigranten sind in den Vorstädten Tangers untergetaucht. Andere campieren in kleinen Gruppen von 10 bis 14 Personen im bergigen Hinterland. Weil sie Angst vor der Polizei haben, kommen sie nur selten in die Stadt, erledigen Einkäufe und gehen wieder. 80 sind es jetzt schon wieder vor Ceuta, sagen Menschenrechtler. Selbst zu ihnen halten die Emigranten jetzt Distanz. Zu dieser Jahreszeit setzen noch keine Boote über: Die See ist noch zu unruhig. Doch trotz aller Überwachung, die Menschrechtler sind sich sicher - in wenigen Tagen oder Wochen fangen die Überfahrten wieder an. Jeder dritte, der versucht, über die Meerenge zu gelangen, kommt dabei ums Leben, glauben Fachleute. Verlässliche Zahlen gibt es weder von den Wartenden hier, noch von den ungezählten, die den Trip durch die Wüste nicht überlebt haben.

    In Tin Zaouatine, einem verlassenen Flecken im öden Niemandsland zwischen Mali und Algerien, liegt ein Gräberfeld. Doch es hält kaum jemanden davon ab, sein Glück nicht doch zu versuchen. Insch’allah, wenn Gott will, werde ich es schaffen. Kaum einen Satz habe ich die vergangenen vier Wochen so oft gehört.

    Offenbar sprechen sich Schlepper und Bootsführer miteinander ab. Nur so zu erklären, dass auf einmal tausende Schwarzafrikaner in Mauretanien auftauchen. Auf Bitten der mauretanischen Regierung hat Spanien jetzt in Mauretanien Auffanglager errichtet. Dorthin werden die Afrikaner von den kanarischen Inseln abgeschoben. Ihr Traum ist dann erst einmal zu Ende.
    Afrikanische Flüchtlinge in einem Lager in der spanische Exklave Mellila
    Afrikanische Flüchtlinge in einem Lager in der spanischen Exklave Mellila. (AP)
    So nah und doch so fern: von einer Terrasse in Tanger kann man den Hafen sehen. Sperrgebiet für Marokkaner ohne Visum. An klaren Tagen sieht man gegenüber in der Ferne Gibraltar.
    So nah und doch so fern: Von einer Terrasse in Tanger kann man den Hafen sehen. Sperrgebiet für Marokkaner ohne Visum. An klaren Tagen sieht man gegenüber in der Ferne Gibraltar. (Rüdiger Maack)