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Tagung an der FU Berlin
Unsicherheit als Befreiung

Unsicherheit macht Menschen nervös. Doch sie birgt auch Chancen, an ihr zu wachsen und sie kreativ zu nutzen. Einen etwas anderen Blick auf die Unsicherheit im menschlichen Leben hat jetzt eine Tagung in Berlin geworfen, organisiert an der Freien Universität.

Von Bettina Mittelstrass | 13.11.2014
    "Unsicherheit ist ein Merkmal des Menschen. Im Vergleich zum Tier ist das sehr offensichtlich. Tiere sind durch ihre Instinkte gesteuert. Sie haben gar keine Freiheit, keine Wahl, sie müssen so handeln, wie ihre Instinkt Struktur ist. Man nannte das in der philosophischen Anthropologie früher: Die haben eine Umwelt, die immer ganz spezifisch ist."
    Der Mensch hingegen hat immer eine Wahl - sagt der historische Anthropologe Professor Christoph Wulf von der Freien Universität Berlin.
    "Wir haben einen Hiatus zwischen Reiz und Reaktion. Wir können 'Nein' sagen. Also selbst wenn Sie großen Hunger haben und man bietet ihnen ein Steak an, können sie 'Nein' sagen. Ein Tier kann das nicht. Das ist der Ursprung von Unsicherheit, oder ein Ursprung von Unsicherheit. Und man könnte sagen: Da ist auch der Grund für menschliche Freiheit und für Entscheidungen und dafür, dass man sein Leben selber führen kann.
    Wo nicht von vorne herein klar ist, wie es weiter geht, und eine Entscheidung getroffen werden muss, herrscht zunächst Unsicherheit. Viele Menschen ertragen Gefühle von Verunsicherung oder Mehrdeutigkeiten schlecht. Verunsicherte Menschen und unsichere Situationen sollen sicher werden. Das ist in der Regel die Richtung - eine ganz entscheidende Richtung für die Entstehung friedlicher Gesellschaften.
    Unsicherheit stiftet Kultur
    "Wir haben eine grundsätzliche Unsicherheit in unserer Existenz und wir müssen uns um Sicherheit kümmern. Das ist natürlich sehr wichtig. Die ganzen Gewaltpotenziale, die Menschen ja haben, müssen eingedämmt werden. Deswegen gibt es Gesellschaften, gibt es gesellschaftliche Ordnungen, es gibt Verträge, es gibt den ganzen Versuch, auch durch Rituale im sozialen Leben menschliches Verhalten zu steuern, es gewaltfrei zu machen."
    So stiftet Unsicherheit also Kultur - indem ihre Überwindung Sicherheit erzeugt. Doch dabei wird viel zu oft vergessen, dass vollständige Sicherheit nicht nur nicht zu haben ist - sondern auch ein Albtraum wäre. Auf der Tagung zum Thema "Unsicherheit" an der Freien Universität Berlin versuchten Psychologen und Pädagogen daher deutlich zu machen, dass es für die einzelne Person und aber auch für die Gesellschaft vielmehr darum gehen muss, eine gute Balance zwischen Sicherheit und Unsicherheit zu schaffen.
    "Was uns hier interessiert, ist dieser Umschlag von dem Streben nach Sicherheit in ein Streben nach Kontrolle. Und das passiert natürlich laufend in den Gesellschaften. Die ganz wichtige Verwaltung - etwas die öffentliche Verwaltung - schlägt um in Bürokratisierung. Dann wird sie Kontrolle, wird sie zur Last, obwohl sie sehr nötig ist und eine Bedingung für menschliche Freiheit ist."
    Doch wie kann man einen unbeliebten Zustand wie Verunsicherung attraktiv machen? Ohne Unsicherheit keine Kreativität und keine Entwicklung, sagt Christoph Wulf - weder für Personen noch am Ende für Gesellschaften.
    "Sie brauchen Unsicherheit, das Außerkraftsetzen von überkommenen Ordnungen oder Werten und Erkenntnissen, wenn sie etwas kreativ neu gestalten wollen. Das heißt, Unsicherheit ist auch etwa, was wir Menschen herstellen können. Und zwar methodisch herstellen können. Das ist ganz wichtig in Therapien, jedenfalls in der Psychoanalyse, wo sie sich öffnen für den anderen, indem sie eben kein Urteil über ihn haben, indem sie unsicher sind, was er ihnen erzählt und was das bedeutet. Das ist auch für die Pädagogik sehr wichtig: sich kein festes Bild von Kindern machen, sondern ihnen ermöglichen, sich zu entwickeln."
    Wichtig für die Entwicklung von Kindern
    Zudem spielt die Erfahrung von Unsicherheit in der psychischen Entwicklung eines Kindes eine wichtige Rolle, sagt der Psychoanalytiker Professor Jürgen Körner, Gründungspräsident der Internationalen Hochschule für Psychoanalyse in Berlin.
    "Kinder müssen zum Beispiel Stationen durchleben, in denen sie sich gewahr werden, dass die Personen, die sie umgeben, nicht ständig präsent sind, dass sie für sich sind und nicht nur für sie, also für die Kinder, da sind. Das heißt sie müssen den Verlust hinnehmen. Diese Unsicherheit belastet sie sehr, macht ihnen auch Angst. Aber meine These ist, dass die Bewältigung dieser Unsicherheit einen großen Entwicklungsschub bedeutet zum Beispiel den, dass sie beginnen, sich diese Personen, die ihnen wichtig sind, vorzustellen. Wir sprechen vom Symbolisieren oder Repräsentieren, das heißt, sie tragen sozusagen die Mutter mit sich rum, wenn sie schon nicht ständig anwesend ist. Und Symbolisierungsfähigkeit ist ein großer Fortschritt.
    Allein sein, keine Ahnung zu haben, nicht zu wissen, Bedürfnisse zu spüren, die nicht sofort befriedigt werden können oder offen zu sein für Anregungen aller Art - das alles bedeutet einen unsicheren Zustand, der auch wertvoll sein kann, weil aus ihm heraus Veränderung entsteht.
    "Ich stamme aus einer Generation, in der in den 70er-Jahren oft versucht wurde, Kindern Unsicherheit zu ersparen durch eine Art von Erziehungen, die ihnen keine Bedürfnisse vorenthielt, die ihnen alle Möglichkeiten öffnete. Und das ging schief, kann man sagen. Weil ich glaube, man hält den Kindern etwas vor, wenn man versucht, ihnen Unsicherheit zu ersparen. Weil ich eben glaube, dass diese Unsicherheit unvermeidlich ist und dass, wenn man sie als Kind oder Jugendlicher überwindet, man Entwicklungsschritte tut, die sonst nicht möglich wären."
    Profitieren von Freude, die in Unsicherheit steckt
    "Das spielt natürlich auch in der Kunst eine große Rolle. Kunst hat ja wesentlich die Funktion, uns aus den alltäglichen Ordnungen herauszuwerfen. Und viele wichtige bedeutende Künstler sind natürlich welche, die mit dem Offenen und dem Ungestalteten gearbeitet haben und natürlich auch eine Fülle von Unsicherheiten und Verwirrungen erzeugt haben."
    Solche Analysen bedeuten natürlich nicht, dass Pädagogen Kinder bewusst verunsichern sollten, und bedeuten auch nicht, dass Gesellschaften auf Ordnung verzichten und besser permanent Verwirrung stiften sollten. Aber man sollte vielleicht öfter erkennen, dass in der anthropologisch verankerten Unsicherheit des Menschen auch viel Potenzial steckt. Folgt man dem Philosoph Gunter Gebauer, dann wissen die meisten Menschen ohnehin längst von der Freude, die in Unsicherheit steckt. Der Professor an der Freien Universität Berlin denkt dabei an Fußball:
    "Im Fußball wird der Mensch künstlich geschwächt, weil nämlich der Gebrauch der Hände verboten wird – das heißt, das geschickteste Organ, das wir haben, mit dem wir normalerweise alle Kulturtechniken bewältigen: schreiben, formen, zeichnen, gestikulieren und so weiter. Die Füße sind da im Grunde genommen eher schwach entwickelt. Füße werden unwesentlich verwendet zum freien Stand, damit die Hände sich bewegen können, ohne behindert zu werden. Beim Fußball ist die Sache genau umgekehrt - also ich nenne das eine verkehrte Welt, wenn die Welt vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Das ist sehr, sehr schwierig, weil dadurch die Unsicherheit enorm erhöht wird."
    "Also worum es uns geht, ist eigentlich die Bedeutung und Akzeptanz von Unsicherheit als eine Bedingung intensiven Lebens."