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Tagung internationaler Migrationsforscher
Raus aus der Solidaritätskrise

Das Phänomen der Massenflucht spaltet die Aufnahmegesellschaften. Populisten verlangen Abschottung. Migrationsforscher in aller Welt halten dagegen, vernetzen sich und fordern mehr globale Solidarität.

Von Anke Petermann | 10.11.2016
    Syrische Kinder im Flüchtlingslager Saatari in Jordanien.
    Im weltgrößten Flüchtlingslager Saatari in Jordanien gibt es mittlerweile Handwerk und Handel, vom Lebensmittel-Laden bis zur Hochzeitskleid-Vermietung. (picture alliance / Lehtikuva / Heikki Saukkomaa)
    Das internationale Hochschulbündnis "Alliance of Leading Universities on Migration", kurz ALUM, verbindet Spitzenforschung mit praxisorientierter Beratung. Die zweite Tagung des wissenschaftlichen Netzwerks fand Anfang November in Mannheim statt.
    Knapp 900.000 Flüchtlinge allein 2015 – internationale Migrationsforscher wie Brad Blitz loben Deutschland für diese Aufnahme-Leistung.
    Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, erkennt der Professor für Internationale Politik an der Middlesex University London darin - der wirtschaftlichen Potenz der Bundesrepublik angemessen. Doch zur Selbstgefälligkeit besteht kein Anlass – das macht ein globaler Blick deutlich.
    Sechs Millionen Syrer sind innerhalb des eigenen Landes geflohen oder vertrieben worden, konstatiert Dr. Nasser Yassin, Politik-Professor an der American University von Beirut. Er hat auch die Flüchtlingsaufnahme in seiner libanesischen Heimat untersucht:
    "Der Libanon beherbergt derzeit 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge, das sind 25 Prozent der Bevölkerung. Es ist die weltweit höchste Flüchtlingsquote pro Kopf. Der Libanon hat etwas weniger als vier Millionen Einwohner. Für ein kleines Land ist es wirklich erstaunlich, wie der Libanon als Staat und Gesellschaft mit der hohen Zahl von Flüchtlingen zurechtkommt."
    Arbeit und Selbstversorgung statt reiner Wohltätigkeit
    Yassins Fazit fällt knapp aus:
    "Wenn ein Land mit vier Millionen Einwohnern es schafft, eine Million Flüchtlinge aufzunehmen, dann kann Europa als Kontinent mit 500 Millionen Einwohnern ein, zwei oder drei Millionen aufnehmen."
    Was die riesigen Flüchtlingscamps im Nahen Osten längst nicht überflüssig machen würde. Heutzutage sind Kriege komplex, sie dauern durchschnittlich 20 Jahre, weiß Kilian Kleinschmidt.
    Für das Flüchtlingswerk UNHCR leitete er bis vor kurzem eines der weltgrößten Flüchtlingslager: Saatari in Jordanien. Junge Kriegsflüchtlinge Jahrzehnte lang, von der UNO-Flüchtlingshilfe alimentiert, in Provisorien abzustellen, statt ihnen Arbeit und Selbstversorgung zu ermöglichen? Für Kleinschmidt kam das nicht in Frage. Wo es geht, will er Menschen Verantwortung übertragen, statt sie wohltätig zu versorgen.
    Als "Bürgermeister" von Saatari förderte der frühere UNHCR-Mann seit 2013 Handel und Handwerk im Camp. Mittlerweile gibt es vom Lebensmittel-Laden bis zur Hochzeitskleid-Vermietung alles in Saataris Geschäftsstraße:
    "Und das ist inzwischen auch, seit wir das in Saatari erfunden haben, wenn ich das so sagen darf, von immer mehr Forschung – viele Universitäten arbeiten daran, Städteplaner, Architekten: wann muss ich im Grunde den Gang ändern, von einem Abstell-Lager unter humanitären Prinzipien in eine nachhaltige Siedlung, wo es dann mal irgendwann egal ist, wer da drin wohnt – ob es die neu angekommenen Flüchtlinge sind, die nach 30 Jahren immer noch dort leben. Ich meine: Viele unserer Städte haben sich so entwickelt."
    Es geht um das Verteilen globaler Ressourcen
    Fazit beim Blick auf die Nachbarländer des kriegsgeschüttelten Syrien: Der Libanon absorbiert größtmöglichen Flüchtlingszuzug fast geräuschlos, in Jordanien formieren sich innovative Übergangsmodelle zwischen Camp und Stadt. Haben also die Populisten Recht darin, dass Flüchtlinge heimatnah am besten untergebracht sind und Europa deshalb das Recht hat, sich abzuschotten?
    Wenn der Zuzug im Libanon unvermindert anhalte, entgegnet Nasser Yassin von der University of Beirut, könne auch dieses tolerante Land aus dem Gleichgewicht geraten. Und, so fügt Kilian Kleinschmidt mit Blick auf die führenden Industrienationen an:
    "Der Wohlstand ist aufgebaut darauf, dass die G7-Staaten weiterhin Afrika und andere Regionen 'ausbeuten'. Das heißt, wir spielen heute noch 'Sim City' mit kleinen oder großen Schiffen, die Rohstoffe aus anderen Regionen bringen. Also unser sozialer Wohlstand ist auf der Armut der anderen aufgebaut. Und das heißt: Es ist nicht ein Zurückgeben-Müssen, sondern es geht um das Teilen von globalen Ressourcen."
    Große Teile der Zivilgesellschaft haben das verstanden, meldet auf der Konferenz führender Migrationsforscher ein lokaler Praktiker zurück: Claus Preißler, Integrationsbeauftragter der Einwanderungsstadt Mannheim, hebt als Gast auf der ALUM-Tagung der örtlichen Uni eines hervor:
    "Dieses wunderbare und anhaltende Engagement der Mannheimer Bevölkerung. Und zwar quer durch alle Schichten, Altersstufen, Herkünfte. Das ist der Aspekt, der mich am meisten beeindruckt von dem, was wir geschafft haben."
    Was sich der kommunale Integrationsbeauftragt an Forschung wünscht:
    "Für uns als Stadt sind natürlich kleinräumige Analysen - welche familiären Netzwerke gibt es, wie sieht es mit dem sozialen Kapital aus, ich würde mir wünschen – ein bisschen mehr lokale Bezüge".
    Wissenschaftliche Allianz für die Verteidigung demokratischer Werte
    Dass die Migrationsforscher des ALUM-Netzwerks Politiker und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen in den Diskurs einbeziehen, gehört zu den Besonderheiten dieser wissenschaftlichen Allianz. Die ist so einzigartig wie die Herausforderung durch Flucht und Migration.
    Das Thema ist zu wichtig, als dass sich führende Universitäten auf diesem Gebiet gegeneinander profilieren könnten, begründet Piroska Nagy Mohácsi, Programmdirektorin des Institute of Global Affairs der London School of Economics and Political Science:
    "Wenn wir diese Migrationskrise nicht bewältigen, wird das unsere Demokratien untergraben, die europäischen Werte, an die wir glauben. Deshalb ist das eine gemeinsame Verantwortung."
    Eher eine Solidaritäts- als eine Flüchtlingskrise schüttelt die internationale Staatengemeinschaft, darüber sind sich Migrationsforscher aus aller Welt auf der Mannheimer Tagung weitgehend einig. Die Ankunft der Flüchtlinge entlarve nur die vorhandenen Schwachstellen der Aufnahmegesellschaften. Diese auf den Feldern der Bildung und sozialen Durchlässigkeit zu beseitigen, würde nicht nur Geflüchteten helfen.
    Das sind Themen für weitere ALUM-Konferenzen, zunächst im libanesischen Beirut, dann, Ende Mai 2017 – im italienischen Siracusa auf Sizilien. Zeitgleich mit und ganz nah am G7-Treffen führender Industrieländer in Taormina. So dass die Botschaften der Wissenschaftler die Staatenlenker erreichen könnten. Ob sie gehört werden – eine andere Frage.