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Tagung
Religion und Antisemitismus

Antisemitismus ist laut Forschung eine Konstante in der Gesellschaft. Einmal im Jahr setzt sich die Tagungsreihe "Blickwinkel" mit antisemitischen Strömungen in der Gegenwartsgesellschaft auseinander. In diesem Jahr liegt der Fokus auf Religion: Inwiefern ist Antisemitismus religiös begründet?

Von Ingeborg Breuer | 11.06.2015
    Eine junge Frau mit Kippa nimmt am Samstag (15.09.2012) in Berlin an einer Demonstration teil. Der Kippa-Spaziergang, zu dem im Internet aufgerufen worden war, sollte ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen und fand auch anlässlich des bevorstehenden jüdischen Festes Rosch ha-Schana (jüdischer Neujahrstag) statt.
    Eine junge Frau mit Kippa (picture-alliance / dpa / Britta Pedersen)
    "Antisemitismus ist eine Konstante in unserer Gesellschaft, die sich nicht dramatisch verändert. Aber sie ist da und wir müssen mit ihr rechnen."
    Prof. Wolfgang Benz, ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin.
    "Judenfeindschaft kommt in allen Lebenslagen, in allen ökonomischen sozialen Zusammenhängen vor."
    "Blickwinkel" heißt die Tagungsreihe, die sich einmal im Jahr mit antisemitischen Strömungen in der Gegenwartsgesellschaft auseinandersetzt. Wie hängen Antisemitismus und Nahostkonflikt zusammen? Wie verflechten sich Antisemitismus und Rassismus, so frühere Schwerpunkte der Veranstalter. Dr. Ralf Possekel, von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft über das Thema der diesjährigen Tagung:
    "In diesem Jahr ist es die Frage nach der Religion. Inwiefern ist Antisemitismus religiös begründet? Oder inwiefern ist die Religion nur eine Metapher für etwas anderes, was nichts mit der Religion zu tun hat, aber vielleicht mit Politik, mit Diskriminierung oder anderen Fragen?"
    "Es gibt die älteren antijudaistischen Topoi: Juden als Gottesmörder, das auserwählte Volk, das die Heilslehre der Christen nicht annimmt."
    Alt sind die Klischees, die Juden hätten Jesus als Messias abgelehnt und seinen Tod herbeigeführt. Und daraus folgerte man dann deren angebliche Mordlust gegenüber Christen. Auf solchen Mythen fußten dann die Feindbilder, die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden:
    "Der Jude, der zu viel Einfluss hat, der Jude, der den Kapitalismus erfunden hat, der Jude, der den Kommunismus erfunden hat, der Börse und Politik und Medien beherrscht, der nach Weltherrschaft strebt, der Ansatzpunkt ist für Verschwörungstheorien."
    Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die weithin bestehende Judenfeindschaft sozusagen "säkularisiert". Der Jude - das war nun nicht mehr der "Mörder Jesu", wie es bei Paulus heißt. Sondern es war - der ethnisch Fremde, die andere Rasse. Dr. Klaus Holz, Soziologe und Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland, führte in seinem Vortrag aus, wie mit dem - protestantisch geprägten - Nationalismus und der Nationalstaatsbewegung des 19. Jahrhunderts das deutsche Volk als Gegenbild zum jüdischen konstruiert wurde.
    "Aus historischen Gründen lag es nahe, die Vorstellung, wer ist dieses deutsche Volk, wohin geht das, was will das, dann zu erklären über einen historischen Feind, der historisch vorgegeben war, über die lange Tradition des Antijudaismus. Man kann plakativ sagen, die deutsche Nation wird konstruiert gegen die Juden."
    ‚Der Jude' wird nun zur Verkörperung der kalten, rechnenden Moderne. Er beherrscht die internationale Wirtschaft, ist verantwortlich für Krisen und Konkurse und ist mit seiner Finanzmacht zugleich der Strippenzieher in der Politik. Auch wenn solche Zuschreibungen nach dem Holocaust in Deutschland nur noch am äußeren rechten Rand laut zu vernehmen sind, die Stereotypen existieren weiterhin:
    "Die Stereotypen finden sie relativ schnell, die Presse als jüdisch dominiert, wenn Sie an die großen Skandale denken oder wenn Sie an Finanzskandale denken oder an Verschwörungstheorien 9.11. - finden Sie genug von den alten klassischen Stereotypen, die mehr oder minder wieder aufkommen."
    Muslime und Antisemitismus
    Mit Skepsis begegneten die Veranstalter der in der Öffentlichkeit verbreiteten Meinung, dass antisemitische, antizionistische Vorurteile heutzutage vor allem unter muslimischen Jugendlichen in Deutschland zu finden seien. Gottfried Kößler, Mitveranstalter der Tagung:
    "Das wäre die These, die ja auch in der deutschen Öffentlichkeit besteht, dass der Antisemitismus eigentlich ein Problem der Muslime sei. Das ist eine Zuschreibung an eine erfundene Gemeinschaft von Muslimen, die dann als die Träger des Antisemitismus betrachtet werden. Während wir aus der Sozialforschung wissen, dass in Deutschland der Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft in einem breiten bürgerlichen Segment breit verankert ist."
    Das eine freilich schließt das andere ja nicht aus. So verwies zum Beispiel die Bundeszentrale für Politische Bildung in mehreren Dossiers darauf, dass "antisemitische Haltungen bei Jugendlichen aus muslimischen Sozialisationskontexten eine problematische Größe" erreichten und nicht nur als Randphänomen abzutun seien. Allerdings, darauf verwies Klaus Holz, sei der muslimische Antisemitismus keineswegs durch den Koran zu begründen. Vielmehr habe auch er seine Wurzeln im Antijudaismus europäischer Provenienz.
    "Er kommt nicht aus einer langen Tradition, sondern übernimmt die Vorurteile. Das kann man anhand der Protokolle der Weisen von Zion und nationalsozialistischer Schriften im Einzelnen zeigen. Diese Vordenker, gerade auch im Islamismus, bedienen sich am europäischen Arsenal wortwörtlich, in der Charta der Hamas finden sie ausdrücklich auch die Protokolle der Weisen von Zion. Die lesen die Bücher und übernehmen die Stereotype."
    Ein neues Feindbild in der Gesellschaft
    Wolfgang Benz allerdings wies darauf hin, dass es mittlerweile ein neues Feindbild in der Gesellschaft gebe, das in seinem Muster dem des Antisemitismus sehr ähnlich sei:
    "Es gibt die Muster der Denunziation, der Diskriminierung mithilfe der Religion. Ich definiere einen Feind über seine Religion. Das hat eine lange Tradition gegenüber Juden, indem man im Talmud die angeblichen Rezepte der Feindseligkeit zu finden glaubte. Das wird jetzt mit einer gewissen Virtuosität von Erfolgsautoren gemacht, die beweisen, dass der Muslim, weil er der muslimischen Religion angehört, zu verbrecherischen Taten verpflichtet ist. Und damit habe ich ihn als Angehörigen eines verbrecherischen Kollektivs stigmatisiert, habe ihn zum Feind gemacht und kann ihn angreifen."
    Pauschalisierung, warnt Wolfgang Benz, müsste durch Differenzierung ersetzt werden, sei es gegenüber Juden oder gegenüber Muslimen. Denn was sei die "Kultur der Erinnerung" wert, auf die wir in Deutschland so stolz seien, wenn die Diskriminierung der Juden heute bei einer anderen Gruppe wiederholt werde?
    "Ich muss doch zuerst fragen, ist Mustafa ein Muslim, der zufällig nicht christlich ist - oder ist er Angehöriger verbrecherischer Ideologien? Aber ich kann ihm nicht von vornherein unterstellen, dass er das ist! Ich kann auch nicht jedem katholischen Priester von vornherein unterstellen, dass er ein Kinderschänder ist."