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Taiwan vor den Wahlen
Ein Land, zwei Identitäten

Im taiwanischen Wahlkampf dreht sich alles um die Beziehung zu China. Die Volksrepublik sieht die Insel als Teil ihres Territoriums und droht mit militärischer Gewalt. Vor allem junge Taiwaner schauen nach Hongkong und fürchten um ihre Freiheit.

Von Josephine Schulz | 14.12.2019
Die taiwanische Präsidentin Tsai Ing-Wen steht zusammen mit dem Bürgermeisterkandidaten Chen Chi-mai in einem Tempel in Kaohsiung und betet.
Präsidentin Tsai Ing-Wen ruft die Götter zuhilfe (imago/Zuma Press/Stanley Leung)
Wei Yang zeigt auf ein hohes Tor hinter ihm. Durch die Gitterstäbe ist das taiwanische Parlamentsgebäude zu sehen. 2014 war er Student und einer von den rund 400 Demonstranten, die dieses Tor überwanden und das Parlament über drei Wochen besetzt hielten. Auslöser für die Studentenproteste der Sonnenblumen-Bewegung war ein Handelsabkommen der taiwanischen Regierung mit Festlandchina. Die jungen Menschen befürchteten damals, dass China noch mehr Einfluss auf Taiwan bekommen würde.
"Nach der Besetzung gab es dieses Gefühl, dass wir wirklich etwas verändern können. Zum ersten Mal waren auf einmal so viele junge Menschen auf der Straße. Und das hat der damaligen Kuomintang-Administration wirklich zugesetzt. Davor hatten wir immer das Gefühl, diese Partei ist unangreifbar."
Heute ist der Zaun neben dem Tor mit Transparenten behangen, hunderte bunter Zettel mit Solidaritätsbekundungen für die Protestierenden in Hongkong kleben daran.
"Schaut euch an, was in Hongkong passiert. Dort können die Menschen ihre Regierung nicht frei wählen. Und wenn sie das fordern, dann werden sie unterdrückt. Wir können unsere Regierung wählen, und selbst wenn wir vieles nicht gut finden, was die Regierung macht. Immerhin können wir Druck machen und sagen, ändert eure Politik, sonst protestieren wir oder wählen euch nicht mehr."
Helme für Hongkong
Auch die junge Aktivistin Michelle Wu organisiert Solidaritätskampagnen für Hongkong: Demonstrationen, aber auch, dass Material - wie zum Beispiel Schutzhelme - in Taiwan gesammelt und nach Hongkong gebracht werden.
"Wenn wir als Taiwaner die Protestierenden in Hongkong unterstützen, dann tun wir das auch für uns. Es gibt den Spruch: Das heutige Hongkong ist das zukünftige Taiwan. Aber eigentlich könnte man auch sagen: Das heutige Hongkong ist das heutige Taiwan. Weil Taiwan schon jetzt massiven Angriffen von China ausgesetzt ist, vor allem über das Internet und die Medien."
Die Aktivistin Michelle Wu vor einem Zaun in Taipeh, der mit Solidaritätsbekundungen für Hongkong behangen ist.
Solidaritätsbekundungen für die Protestierenden Hongkonger. (Josephine Schulz)
Die China-Frage ist das entscheidende Thema im Wahlkampf und spaltet das Land. Die oppositionelle Koumintang-Partei, kurz KMT, will eine engere Bindung mit dem kommunistischen Nachbarn und beschwört die gemeinsame chinesische Identität. Die regierende Demokratische Fortschrittspartei (DPP) mit Präsidentin Tsai Ing-Wen warnt vor China und will größtmögliche Distanz.
China droht mit militärischer Gewalt
Im ältesten Café Taiwans sitzt Chen Tsui-Lien und trinkt Tee mit Milch. Sie ist Geschichtsprofessorin an der Nationaluniversität Taiwans:
"Wir haben lange unter einem autoritären System gelebt. Da wurden die Menschen auf die damalige Ideologie eingeschworen. Deshalb halten viele aus der Generation der heute 50- oder 60jährigen der ehemaligen Staatspartei Kuomintang die Treue. Die jüngeren wollen Demokratie und eine liberale Gesellschaft, sie finden die Koumintang schlecht. Das führt dazu, dass unsere Gesellschaft gespalten ist."
Die Kuomintang, die jetzt an demokratischen Wahlen teilnimmt, hat die Insel Jahrzehnte als autoritäres Ein-Parteien-System geführt. Nach dem verlorenen chinesischen Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten zog sich die KMT unter ihrem Anführer Chiang Kai-shek 1949 auf die Insel Taiwan zurück und führte hier die Republik China fort. Viele ihrer Anhänger sehen die Republik China – wie Taiwan immer noch offiziell heißt - weiterhin als das eigentliche China an. Die Volksrepublik China wiederum betrachtet Taiwan als Teil ihres Territoriums und will die Wiedervereinigung. Notfalls, so hat Präsident Xi Jinping klargemacht, auch mit militärischer Gewalt. In den letzten Jahren hat China den Druck auf Taiwan erhöht. In der Taiwanstraße wurden mehrere Militärmanöver abgehalten, Individualreisen von Festlandchinesen nach Taiwan verboten.
"Die Demokratische Fortschrittspartei schürt Angst"
Alicia Yu-Min Wang sitzt für die KMT im Parlament. Sie plädiert für Deeskalation:
"Wir hoffen, dass wir über eine friedliche Zusammenarbeit mit Festlandchina mehr Freiheit auf der internationalen Bühne bekommen. Durch den harten Kurs der aktuellen Regierung haben wir in den letzten drei Jahren sieben diplomatische Verbündete verloren."
Taiwan wird momentan nur noch von 15 Kleinststaaten anerkannt und ist international isoliert. Denn die meisten Länder, wie auch Deutschland, haben sich der Ein-China-Politik der Volksrepublik gebeugt.
"Die Demonstrationen in Hongkong haben sehr große Unruhe in Taiwan verursacht. Die regierende Demokratische Fortschrittspartei versucht mit der Parole heute Hongkong, morgen Taiwan Angst zu schüren. Aber wir sind ein selbstständiger Staat, wir haben unser Territorium und unsere Regierung. Wir versuchen, den jungen Leuten zu erklären, dass Taiwan nicht Hongkong ist. Außerdem hat die KMT ja sehr lange regiert und niemals hat China Taiwan angegriffen."
Taiwan hat einen Trump
350 Kilometer, aber nur rund eineinhalb Stunden mit dem Schnellzug von Taipeh entfernt, liegt die Hafenstadt Kaohsiung. Hier herrschen tropische Temperaturen und auch politisch unterscheidet sich das Klima von der Hauptstadt. Im letzten Jahr wurde der Politneuling Han Kuo-yu zum Bürgermeister gewählt. Nun tritt er als Präsidentschaftskandidat der Kuomintang gegen die Amtsinhaberin Tsai Ing-Wen an. Ein Populist, wie seine Kritiker sagen, der mit abwertenden Äußerungen über Frauen, Homosexuelle und Indigene Stimmung macht. Auch machen Anschuldigungen die Runde, Han Kuo-Yus Wahlkampf sei von China finanziert. In Kaohsiung hat der Bürgermeister trotzdem viele Fans.
"Er ist jemand, der wirklich nah an den Menschen dran ist. Jeder der ihn, trifft merkt das. Selbst junge Leute, die immer die ganzen schlechten Nachrichten über ihn lesen, mögen ihn, sobald sie ihn einmal getroffen haben. Ich unterstütze den Bürgermeister. Denn er sagt, wir müssen mit der ganzen Welt zusammenarbeiten. Mit China genauso wie mit allen anderen Ländern", sagt Jose Lee.
Tigerstaat in wirtschaftlicher Abhängigkeit
Jose Lee macht Hafenführungen und hat ein kleines Exportgeschäft für Fahrradteile. Für ihn zählt vor allem das Versprechen der Kuomintang, dass durch bessere Beziehungen mit China, die Wirtschaft neuen Aufschwung erleben würde. Denn trotz aller politischen Spannungen: Ökonomisch ist Taiwan von China abhängig. 40 Prozent der Exporte gehen in die Volksrepublik. Und viele der international führenden taiwanischen High-Tech-Firmen produzieren auf dem Festland. Jose Lee erinnert daran, dass Taiwan zu den vier asiatischen Tigerstaaten gehört, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert in kürzester Zeit ein rasantes Wachstum vom Entwicklungs- zum Industrieland erlebten.
"Die KMT hat viel Gutes getan in der Vergangenheit. Weißt du, es gibt vier Drachen in Asien, wir waren die Nummer eins. Heute wird ständig gesagt, diese Zeit unter der KMT war eine Diktatur, aber sie haben uns Wohlstand gebracht."
Angriffe aus dem Netz
In den aktuellen Umfragen liegt der Bürgermeister aus Kaohsiung hinter der Amtsinhaberin Tsai Ing-Wen. In der Regierung macht man sich trotzdem große Sorgen.
Wahlkampfveranstaltung November 2019 der Demokratischen Fortschrittspartei im Zentrum von Taipeh
Wahlkampfveranstaltung der DPP in Taipeh (Josephine Schulz)
Chui Cheng-Chiu, Vize-Minister für Festlandchina-Angelegenheiten sagt: "Chinas Einmischung in unsere Wahlen hat längst begonnen. China lanciert Desinformationskampagnen und versucht, Chaos in unserer Gesellschaft zu stiften. Außerdem nutzen sie alle Ressourcen, um pro-chinesische Kandidaten zu unterstützen."
Pro Monat, so heißt es von den Behörden, gäbe es rund 30 Millionen Cyberattacken gegen Taiwan. Außerdem haben Vertreter der Volksrepublik sich in großem Umfang in taiwanische Medien eingekauft. Factchecking-Organisationen berichten, dass man gegen die Masse an von China lancierten Fake-News in den sozialen Medien kaum ankäme.
Chui Cheng-Chiu sagt: "Bis zu den Wahlen ist es nicht mehr lange hin und wir glauben, dass China noch so einiges in petto hat. Der Faktor China ist das größte Risiko bei den Wahlen. Wir rufen Peking auf, die Wahlfreiheit unserer Bürger zu respektieren. Und wir hoffen, dass auch die internationale Gemeinschaft nicht wegschaut und Chinas Handeln verurteilt."
Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Recherchereise mit Journalists Network. Journalists Network ist ein Verein, der auf ehrenamtlicher Basis Recherchereisen für Nachwuchs-Journalisten organisiert.