Ian Kershaw: "Achterbahn. Europa 1950 bis heute"

Von den Aufs und Abs des europäischen Wegs

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Das Cover des Buches im Vordergrund. Im Hintergrund ein Überwachungsturm auf freiem Feld erinnert an die Zeit des Kalten Krieges.
Eine enorme Fülle an Fakten und Details sowie Mut zeichnet Ian Kershaws Buch "Achterbahn. Europa 1950 bis heute" aus, meint unser Kritiker Hans von Trotha. © DVA / Imago / onemorepicture / Thorsten Wagner
Von Hans von Trotha · 29.04.2019
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Im zweiten Teil seiner monumentalen Geschichte Europas beleuchtet der Historiker Ian Kershaw die Entwicklungen bis hin zum Brexit. Das mutige Buch heißt "Achterbahn" – wegen der zahlreichen Wendungen, die für Kershaw in immer neue Unsicherheit führen.
Das Jahr 2014 hat den europäischen Geschichtswissenschaften einen regelrechten Aufmerksamkeitsschub beschert. Nachdem der Zweite Weltkrieg mit seiner Vorgeschichte und seinen Folgen jahrzehntelang wie ein Gebirge zwischen unserer Gegenwart und der Zeit davor gestanden hatte, sprengte das Gedenken an den Ersten Weltkrieg diese Mauer und gab die Sicht auf die Zeit davor frei – was den Blick auf die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts verändert hat.
Das lässt sich auch an Ian Kershaws "Achterbahn. Europa 1950" bis heute beobachten. "Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust", schreibt Kershaw, "haben – weit mehr als der Erste Weltkrieg – im Lauf der Zeit das öffentliche Bewusstsein der jüngsten Geschichte dominiert." Das Gedenken an beide ist Kershaws Meinung nach übrigens "nicht geeignet, ein gemeinsames europäisches Identitätsgefühl zu schaffen". Und genau das ist bei allen Erfolgen der europäischen Integration der letzten Jahrzehnte bisher nicht gelungen.

Europa nach 1949 von "Matrix der Unsicherheiten" geprägt

Nach "Höllensturz. Europa 1914 bis 1949" (2016) liegt jetzt der zweite Teil von Kershaws monumentaler Geschichte Europas vor. Er hat ihn "Achterbahn" genannt, wegen der "Wendungen und Windungen, den Auf und Abs, die Europa von einer Epoche der Unsicherheit in die nächste geführt haben". Und Kershaws europäische Geschichte endet in einer "neuen Ära der Unsicherheit". Aus "Höllensturz" überführt er den Begriff der "Matrix" in "Achterbahn". Während er in der ersten Jahrhunderthälfte eine "Matrix der Wiedergeburt" ausmacht, ist es nach 1949 eine "Matrix der Unsicherheiten".
Neben der enormen Fülle an Fakten und Details und Kershaws Fähigkeit, Geschichte als Erzählung zu entwickeln, zeichnet das Buch der Mut aus, diese Geschichtserzählung bis in unsere Tage fortzuschreiben, bis zum Brexit als Emblem eines institutionellen Europa in der Krise, also deutlich über das vielfach erklärte, auch hier kolportierte Ende des "kurzen" 20. Jahrhunderts am 25. Dezember 1991 um 19 Uhr Moskauer Zeit, also das Ende der Sowjetunion, hinaus.

Statt "Tauwetter" die Metapher "Schraubstock"

Kershaw argumentiert nicht nur ereignisgeschichtlich, sondern auch sozial- und am Rande immer wieder auch kulturhistorisch – wobei man fragen kann, ob er die Bedeutung der Kultur für die Geschichte nicht unterschätzt, wenn er sie nicht als gesellschaftlichen Faktor, sondern lediglich als "Fenster zur Seele einer Gesellschaft" betrachtet. In zwei Fällen macht er eine Ausnahme vom Verzicht, einzelne Akteure in den Mittelpunkt zu stellen: bei Gorbatschow und Kohl, die er als "Schlüsselfiguren" interpretiert. Und immer wieder hinterfragt Kershaw zum Standard gewordene Metaphern der Geschichtserzählung wie "Wirtschaftswunder", "Prager Frühling" oder "Tauwetter".
Anstelle von Letzterem schlägt er beispielsweise die Metapher vom "Schraubstock" vor, den die sowjetische Führung wahlweise lockern oder anziehen konnte. Genauso wie "Höllensturz" ist auch "Achterbahn" ein Beispiel für Kershaws Technik bewusst metaphorischen Argumentierens – die sich beim Durchdringen, Darstellen und Veranschaulichen komplexer historischer Zusammenhänge als ausgesprochen hilfreich erweist.

Ian Kershaw: Achterbahn. Europa 1950 bis heute
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019
832 Seiten, 38 Euro

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