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Tanguy Viel
Ein ur-französischer Roman à l'américaine

Nach vier Jahren Pause ist nun Tanguy Viels neues Buch "Das Verschwinden des Jim Sullivan" erschienen - ein "amerikanischer Roman", wie es im Untertitel heißt. Dabei geht es nur ganz am Rande um den auf mysteriöse Weise verschwundenen Songschreiber Jim Sullivan. Und auch als "amerikanisch" ist das Buch mitnichten zu bezeichnen.

Von Cornelius Wüllenkemper | 15.09.2014
    Eine Straße zieht sich bei Roswell durch die Landschaft von New Mexico.
    Der Roman übernimmt alle Zutaten des Klischees, wie etwa einsame Wüsten-Highways. (Picture Alliance / dpa / Florian Breier)
    Tanguy Viel gehört zu den Autoren des französischen Verlags Editions de Minuit, die hier und da als "Formalisten" kritisiert werden. Ihre Romane leben oft genug mehr vom Spiel mit Formen, Perspektiven und Erzählhaltungen als von ihrer Handlung. Heute dagegen werden Romane mit klarer Struktur, anschaulichen Beschreibungen der sogenannten Realität und einer möglichst vielseitigen, spannenden Geschichte besser verkauft, öfter geschrieben und mehr gelesen. Diese Annahme jedenfalls war Ausgangspunkt für Tanguy Viel, sich an sein Romanprojekt zu wagen:
    "Dieser Roman ist aus einer Krise entstanden. Zwei Jahre lang wusste ich nicht, was ich eigentlich suche, was ich will. In diesen Momenten der Müdigkeit habe ich natürlich eine gewisse Eifersucht gegenüber den Autoren empfunden, die mal eben so einen Roman aus dem Ärmel schütteln. Wie schnell Philip Roth oder Joyce Carol Oates schreiben – das ist einfach unglaublich, die produzieren 300, 400 Seiten mindestens pro Jahr. Womöglich hat mich meine eigene Unfähigkeit, so schnell zu schreiben, auf die Idee gebracht, eben einen "amerikanischen Roman" zu schreiben."
    Tanguy Viel wäre aber nicht Tanguy Viel, wenn sein "amerikanischer Roman" nicht konterkariert würde durch das Spiel mit Perspektiven und Selbstreferenzen zum Autor und dem Schreiben an sich. Am Anfang eines Buches, so sagt Tanguy Viel, brauche er eine Frage, eine literarische Problematik, die es zu lösen gilt. In seinem nur knapp 130 Seiten kurzen Buch "Das Verschwinden des Jim Sullivan" geht es um die Frage, was den typischen amerikanischen Roman auszeichnet, und wie es sich anfühlt, so einen Bestseller zu schreiben. Um sich dieser Frage anzunähern, hat Tanguy Viel sich einen Erzähler ausgedacht, der ihm selbst vermutlich ziemlich ähnlich ist: ein schreibgehemmter französischer Autor, der beschließt, einen amerikanischen Roman zu schreiben. Der Leser wird Zeuge einer literarischen Fließbandproduktion.
    "Ich habe mit der Energie eines Erzählers begonnen, der sich über die amerikanische Literatur ärgert. Aber ab einem bestimmten Punkt kam ich mit diesem zwanghaften, geradezu hysterischen Ton nicht mehr weiter. Nach 30, 40 Seiten befand ich mich mit diesem Monolog vor einem Nichts. In diesem Nichts habe ich beschlossen, genau den Roman zu schreiben, um den es bisher in dem Buch ging. Ich war mir also selbst in die Falle gegangen: Wenn ich so gut wusste, wir der amerikanische Roman funktioniert, hatte ich nichts weiter zu tun, als einen zu schreiben! Die Herausforderung meines Erzählers war plötzlich zu meiner eigenen geworden."
    Klischeehafte Versatzstücke des "story-telling"
    Viels Erzähler beschreibt uns en détail, wie er seinen amerikanischen Roman anlegt, wie er im Internet die nötigen Informationen zusammenklaubt, welche Handlungselemente wann und mit welcher Absicht eingeführt werden. Der Plot wirkt vertraut: Die Hauptfigur Dwayne Koster ist ein geschiedener, alkoholkranker Literaturprofessor in Detroit, dessen Frau Susann sich in seinen Kollegen Alex verliebt hat. Während Koster seiner Ex-Frau hinterherspioniert und sich wehmütig an die gemeinsamen Träume und an das triste Eheleben im amerikanischen Mittelstand erinnert, beginnt er selbst eine Affäre mit einer Bar-Bedienung, wirft seinen Job als Uni-Professor über Bord, beginnt verarmt und ohne seelischen und gesellschaftlichen Halt in einer Videothek zu arbeiten. Irgendwann platzt Dwayne Koster, der doch nur Gutes will, dem aber in der Welt nur Böses widerfährt, der Kragen: Er steckt die Videothek in Flammen und begibt sich in die Fänge einer kriminellen Organisation. Wie in einem Baukasten setzt Tanguy Viels Erzähler seinen amerikanischen Roman mit klischeehaften Versatzstücken des "story-telling" zusammen.
    "Mich hat vor allem die Zwanghaftigkeit meines Erzählers interessiert. Wie er als französischer Autor Eifersucht gegenüber den Amerikanern empfindet und wie er durch das Verfassen eines amerikanischen Romans wieder zum Schreiben findet. Darin liegt natürlich ein ernstes Thema begraben, auf das ich mich intensiv vorbereitet habe: Was macht den amerikanischen Roman aus? Ich habe mir ein Reservoir der "Amerikanität" angelegt, indem ich eine Unzahl an amerikanischen Romanen gelesen habe. Meine Erkenntnisse habe ich dann in meinem Roman auf ironische Weise untergebracht: Hier haben wir den Universitätsprofessor, da muss eine Landschaftsbeschreibung rein und außerdem gibt es ja immer eine Reise ..."
    Genüsslich rührt Tanguy Viel alle Zutaten des Klischees über den amerikanischen Roman an: Vietnam, Poker und Pornografie, Alkohol und wilde Natur, Baseball und Braunbären, die in Mülltonnen nach Essbarem suchen, die ehemalige Autostadt Detroit, aber auch das FBI und der Irakkrieg, einsame Wüsten-Highways, Motels und hart gesottene Biker.
    Und was hat das mit dem Verschwinden des Jim Sullivan zu tun, von dem im Titel von Tanguy Viels Roman die Rede ist? 1975 verschwand der ehemals erfolgreiche Country-Sänger Jim Sullivan spurlos in der Wüste Neu-Mexikos. Bis heute kursieren verschiedenste Gerüchte: Stecken die Mafia oder gar Außerirdische hinter seinem Verschwinden oder handelt es sich um einen Selbstmord? Die Romanfigur Dwayne Koster hört eines Tages in seinem alten Dodge Sullivans Songs und stellt sich ebendiese Fragen, und dabei bleibt es - für's erste. Der Sänger Jim Sullivan, aber auch der gescheiterte Universitätsprofessor Dwayne Koster, das sind die Hauptfiguren einer Handlung, die auf der weitesten Strecke dieses Romans ein bloßes Statistendasein führt. Es sind die Versatzstücke eines klischeehaften amerikanischen Romans, die uns vorgeführt werden.
    Ein Roman wie eine Psychoanalyse
    "Ich habe die defensive Struktur des Buches - ein Erzähler, der eigentlich gar nicht wirklich erzählt - irgendwann durchbrochen, um loszulassen und zum eigentlichen Stoff zu kommen. Wie bei einer Psychoanalyse, wo man zu Beginn Anekdoten aus dem Leben erzählt, um dann plötzlich zu einem Durchbruch zu gelangen. Wenn das auf den Tisch kommt, um was es eigentlich geht. Auch wenn ich das bei diesem Buch geschafft habe, werde ich die gleiche Entwicklung bei meinem nächsten Buch noch einmal durchmachen müssen. Was mich beim Schreiben wirklich interessiert, ist nicht der rohe Handlungsstoff, sondern der Prozess der Verwandlung: von einer komplizierten, intellektuellen Problematik hin zur Einfachheit der Dinge. Deswegen schreibe ich Bücher."
    Der zweite Geniestreich, den Tanguy Viel seinen Lesern spielt, besteht darin, dass er den komplexen perspektivischen Aufbau nach und nach verschlankt und plötzlich den eigentlichen Plot erzählt. Kurz vor Ende des Romans sind wir mitten drin in der Handlung, fühlen mit dem schicksalsgebeutelten Dwayne Koster, verfolgen gebannt, wie er sich in kriminelle Machenschaften ziehen lässt, bangen um sein Leben auf einer wirklich hoch spannenden Verfolgungsfahrt auf dem nächtlichen Wüsten-Highway. Tanguy Viel musste seinen Plot und das Genre zunächst komplett dekonstruieren, um die eigentliche Romanhandlung erzählen zu können.
    "Ohne die formale Struktur mit einem Erzähler, der über das Verfassen eines Romans schreibt, wäre ich niemals in der Lage gewesen, dieses Buch zu schreiben. Es geht da um das Vertrauen in den eigenen Plot. Durch die Instanz des Erzählers, der selbst Teil der Handlung ist, kann ich selbst an meine Geschichte glauben. Und ich hoffe, das funktioniert genauso wie bei einem konventionellen Roman. Mein Erzähler verschwindet nach und nach hinter der Geschichte, bis die Magie der Fiktion als solche wirkt."
    Wer eine Geschichte hören will, wer um der Empathie willen liest, muss bei Tanguy Viel Geduld haben. Das geradezu genial-perfide an diesem ur-französischen Roman à l'américaine ist, dass Tanguy Viel nach der absichtlichen Zerstörung seines Romanprojekts eine äußerst spannende Story aus dem Ärmel schüttelt, die uns vergessen macht, dass wir hier eigentlich nur vorgeführt werden.
    Tanguy Viel: Das Verschwinden des Jim Sullivan. Ein amerikanischer Roman.
    Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. 128 Seiten, Wagenbach, Berlin.