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"Tannhäuser"

Jan Fabre präsentiert den "Tannhäuser" pur – ohne Bühnenbilder. Wie in einem Schatten- oder Totenreich. Und tatsächlich hat das Werk, in dem der Titelheld im Augenblick der erfülltesten Liebeswonnen von seinem Todesdrang zu singen anhebt, mit der Nachtseite des ansonsten so fortschrittsoptimistisch gestimmten 19. Jahrhunderts beziehungsreich zu schaffen. Fabre "aktualisiert" die Tannhäuser-Fabel nicht, sondern fühlt ihr mit Bewegungstheater auf den Zahn der Zeit; ja: Durch die konsequente Entkleidung des Stücks und seiner Statisten stößt er, wie beabsichtigt, so Wesenhaftem vor.

Von Frieder Reininghaus | 10.06.2004
    Der Kern der Sache ist tatsächlich das unauflösbare Spannungsverhältnis zwischen Venusberg und Wartburg. Also: Zwischen der Welt der exzessiv ausgelebten Lüste und jener der christlich purifizierten Verheißung. Nackt und brutal, aber durchaus in kalter Schönheit präsentieren sich die "Schlachtfelder" in allen drei Aufzügen. Während sich im ersten Frau Venus vorn an der Rampe auf ihre liebevolle Weise um den großen Sänger Tannhäuser kümmert, sich zum Zwecke der Verlängerung seiner Lust an ihm hart abarbeitet, zeigt ein Rudel Nackedeis auf der weiten leeren Fläche, was Männer und Frauen körpersprachlich anturnen mag.

    Jan Fabres Etablissement der höchsten Lüste verfügt, so wenig wie der Rest der Inszenierung, über Kulisse oder Dekoration. Die Leiber selbst bestücken das weite Feld - und ihr Agieren ist, zumindest auch, von Zwang bestimmt. Und gerade vor dem flieht der Prototyp des genialischen Künstlers. Noch bevor sich die dunkle Venus ganz von ihm verabschiedet hat, während der Chor der pappnasigen Jecken auf dem Weg nach Rom durchzieht, nimmt Maria ihn in ihre Obhut: Als Anspielung auf die vorchristlichen Ursprünge des Marienkults tritt sie aus ihrer Apsis, als Urmutter behängt mit 18 blanken Brüsten. Diesen Fruchtbarkeitssymbolen korrespondiert die splitterfasernackt gezeigte Geburtsvorbereitungsgruppe der Universitätsklinik Sint-Pieter aus dem Brüsseler Südwesten: Das, so sagt das drastische Bild, ist das Ziel der oberirdischen Sehnsüchte von Tannhäuser.

    Auch des weiteren wird Maria dem langen Abend verbunden bleiben: Als Himmelskönigin im goldenen Strahlenkranz sekundiert sie dem zweiten Aufzug, dem Akt der weißen Kleider, der vordergründig unbefleckten Elisabeth-Welt. Im Schluss-Teil agiert sie, in einem Schwerterwald, als Mater dolorosa: Das Herz nicht nur voll Schmerzen, sondern durchbohrt von Schwertern (wie es barocke Statuen und Bilder zeigen) - und sie tritt an zum letzten Gefecht um Tannhäusers Leib und Seele, zu dem die Venusberg-Sphäre unmittelbar auf die ihre trifft. Diese Hemisphäre erinnert mit den vielen Dutzend säuberlich geordneten Hieb- und Stichwaffen an einen Friedhof. So ist eine weitere Überlegung des Regisseurs sinnfällig umgesetzt worden: Dass alle, die man da singen sieht und hört, eigentlich schon lange tot sind und wir an ihrem Leben nur durch dessen stilisierter Abbildung teilhaben - einer Abbildung, die zugleich von Joseph Beuys und von Hieronymus Bosch inspiriert worden sein mag. Tannhäuser, der aus dem Reich der Nackten und der Toten Erlösung finden will, wird von diesem wieder eingeholt. Nur eben in eine andere Abteilung umgebettet.
    Szenisch ist Jan Fabres Debüt-Arbeit an der Belgischen Nationaloper in Brüssel ein großer Wurf, gerade auch in der Darstellung der Jagdgesellschaft um den Landgrafen Hermann von Thüringen, die die nackten Tänzerinnen zu Folteropfern und Jagdtrophäen werden lässt.
    Wenn nur besser gesungen würde! Natascha Petrinsky schlägt sich als Venus vergleichsweise am besten - Adrienne Dugger erreicht als Elisabeth die reinen Höhen nicht, zu denen ihre Kehle und Seele aufsteigen müssten. Louis Gentile kommt als Tannhäuser-Tenor dreißig Jahre zu spät. Am erfreulichsten: Roman Trekel als Liederabend-Interpret in Gestalt eines verklemmten Wolfram von Eschenbach: Er liebt, wie er glaubt, Elisabeth wahrhaftig und reinlich; die Prinzessin aber will keinen Hänfling, sondern einen ganzen Kerl. Und so geht das Leben unerfüllt an ihr vorbei. Der Dirigent Kashuki Ono aber hat es trefflich verstanden, die vier Musikstunden mit kontrastreich-praller Theatermusik zu erfüllen.