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"Tanz im August"-Festival
Überlebte Avantgarde

Während der britische Choreograf und einstige Ballettrevoluzzer Michael Clark immer noch versucht, sich mit nackten Hintern gegen das Establishment aufzubäumen, gelingt es anderen auf elegante Weise, etwas wirklich Neues zu zeigen. Beim Berliner Festival "Tanz im August" sind stilistisch keine Grenzen gesetzt – das liegt vor allem an einer Person.

Von Elisabeth Nehring | 20.08.2014
    Ein wenig erinnern die Tänzer der Michael Clark Company an Automaten. In ihren abwechselnd orange-metallic-, schwarz-weiß- oder braun-blau-farbigen Ganzkörpertrikots führen sie ihre von Postmoderne und Neoklassik inspirierten Tanzkompositionen aus – ohne jede weitere Regung als die der rein körperlichen Bewegung. Das lineare Bewegungsmaterial wird nur unterbrochen von einem gelegentlichen Schwung der Hüfte oder Um-die-eigene-Achse-Kreiseln. Es lässt keine Emotion, keine Individualität zu. Der Tanz verbleibt in einer fast sterilen Ästhetik.
    Michael Clark gilt immer noch als Ballettrevoluzzer, als 'Punk' und Aufmischer der klassischen Kunstform. Doch das kann spätestens seit der jüngsten Produktion 'animal/vegetable/mineral' nur noch verwundern. Denn was in den Achtzigerjahren die Gemüter noch erregte – nackte Hintern und klare Arabesken, Punkmusik zu Port de bras und Pas de deux – ist heute entweder vom Choreografen selbst geglättet oder kann ohnehin niemanden mehr in Rage versetzen. Zumindest nicht, wenn man die Tanzentwicklung der letzten 25 Jahre auch nur ein kleines bisschen verfolgt hat.
    Denn auch wenn Clark im dritten und letzten Teil seines Stückes etwas wilder wird und in einem Akt künstlerischer Überdrehtheit und herrlicher Sinnfreiheit Videoprojektionen, Musiken und Tänzer einmal durchschüttelt auf die Bühne wirft, ist doch der damit evozierte 'Protest gegen das Establishment' schlichtweg obsolet geworden.
    Nach 30 Jahren zeitgenössischer Tanzentwicklung fragt man sich ohnehin, wieso sich ein Künstler am rigiden Ballettsystem noch abarbeiten muss, als ob es heute noch dieselben Grenzen gäbe und sich nicht selbst die großen klassischen Companien entschieden den Zeitgenossen und ihren neuen Techniken öffnen würden. Clarks Landsmann Wayne McGegror zum Beispiel macht ja gerade vor, wie man das altehrwürdige Royal Ballett auf verblüffend neue und andere Weise in Bewegung versetzen kann, ohne den Nimbus des Traditionszerstörers wie ein Mantra vor sich her zu tragen.
    Neue Festival-Leiterin mit Sympathie und Kompetenz
    Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: dieses Stück kann Spaß machen; so viele begeisterte Zuschauer können nicht irren. Zur Entwicklung der Kunstform aber trägt Michael Clark allerdings nicht viel bei – im Gegensatz zu Kollegen wie besagtem Wayne McGregor oder auch und vor allem William Forsythe. In Variation macht der Brite, was er macht, und das seit drei Jahrzehnten.
    Clarks Vorstellung war einer der frühen Höhepunkte des diesjährigen "Tanz im August"-Festivals. Dessen neue Leiterin, die durch Sympathie und Kompetenz überzeugende Finnin Virve Sutinen, hat seit der Eröffnung letzten Freitag gezeigt, dass sie sich in der Programmgestaltung keine stilistischen Grenzen auferlegen wird.
    Schon am Eröffnungstag ließ uns Sutinen einmal durch alle Aggregatzustände laufen, von Daniel Léveillés 'Solitudes Solo', einer spröden Aneinanderreihung von Soli zu Bachmusik - einem Stück wie ein steiniger Felsen, in dem die Tänzer sich sehr mühsam von einer Bewegung in die nächste arbeiten - bis zum Trash- und Catwalkbombardement mit Tanzgeschichtsbezügen des Amerikaners Trajal Harrel. Virve Sutinen sage Ja zu: Bewegung, Unterhaltung, Politik, den Achtzigern, Humor, Brillanz, Punk, wie sie bei ihrer kurzen, charmanten Eröffnungsrede verlauten ließ und war mit ihrer Liste noch lange nicht am Ende. Die nächsten Tage mit Vorstellungen des 'Big Dance Theatre' aus New York und 'La Veronal' aus Spanien werden auf jeden Fall mit Spannung erwartet; denn Virve Sutinen präsentiert mit diesen Gruppen in ihrer Heimat etablierte Künstler, die noch nie in Deutschland zu sehen waren. Und das ist eine wirkliche Novität beim "Tanz im August".