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Tanzkultur und das Älterwerden

Auf der Tagung "The Aging Body in Dance" verglichen Wissenschaftler und Tänzer die europäisch-amerikanische Tanzkultur mit der japanischen. Auf dem Prüfstand standen kulturspezifische, normierte Konzepte von Schönheit und Bewegung, Leistungsfähigkeit und Expressivität.

Von Rebecca Hillauer | 19.07.2012
    "Der Tod ist das Ende unseres Alterns. Auch wenn die Technologie sich weiter entwickelt und mehr Menschen länger und gesünder leben können – für den Körper gibt es immer ein Ende. Wir können bis zu diesem Ende tanzen. Das ist die Essenz des Alterns und die Essenz im Leben eines jeden Tänzers."

    Ein Zitat des Butoh-Meisters Kazuo Ohno. Der Vater des japanischen Ausdruckstanzes verstarb im Oktober 2010 – im Alter von 103 Jahren. Mit seinen Worten eröffnete die Kuratorin Nanako Nakajima das Symposium "The Aging Body in Dance". Über den alternden Körper im zeitgenössischen Tanz hat die Tanzdramaturgin und Wahlberlinerin auch ihre Dissertation am Zentrum für Bewegungsforschung der Freien Universität geschrieben. Das in Deutschland einzigartige Institut widmet sich dem Phänomen der Bewegung in Theater, Tanz und Performance in seiner ganzen Breite und Reichhaltigkeit. Nanako Nakajima vergleicht in ihrer Dissertation die unterschiedlichen Konzepte in den Tanzkulturen von Europa und Amerika mit Japan. Dort ist der Prozess des Alterns traditionell ein wesentlicher Bestandteil der Tanzästhetik.

    "In der japanischen Theatergeschichte gibt es viele alte Tänzer. Sie müssen trainieren, bis sie ihre wirkliche Blüte mit 50 Jahren erreichen. Es gibt Profitänzer, die mit 60 und 70 immer noch auftreten – und als lebendes Kulturgut verehrt werden, weil sie nicht nur ihre persönliche, sondern auch die Geschichte des Landes verkörpern."

    Anders in der europäisch-amerikanischen Tanzästhetik: Hier zählen vor allem technische Virtuosität, Kraft und Schnelligkeit. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet in den USA, dem Land der ewig jungen Hollywood-Körper, das Interesse an älteren Tänzern und Tänzerinnen beständig wächst. Im Fokus: Anna Halprin, die am 13. Juli 92 Jahre alt geworden ist. Janice Ross, Tanzprofessorin an der Stanford University, verfolgt deren Geschichte, seitdem Anna Halprin als junge radikale Künstlerin die Tanzszene betrat.

    "Ich habe einige der namhaften Tänzer und Tänzerinnen interviewt, die von Anna Halprin beeinflusst worden sind, zum Beispiel Meredith Monk. Sie sagte, Anna sei damals ihr einziges Rollenmodell gewesen dafür, dass eine Frau eine Familie und eine Karriere als Tänzerin haben konnte. Es ist schon provokant, wenn diese Frau, die als Erste nackt auf einer amerikanischen Bühne getanzt hat, nun als Urgroßmutter zurückkehrt. Das passt in unseren Köpfen nicht zusammen. So bürstet sie unsere Vorstellungen über das Altwerden gegen den Strich – insbesondere als Frau."

    In Deutschland arbeitete Pina Bausch als Erste auch mit älteren Tänzern in ihrem Ensemble. Ihr Stück "Kontakthof" ließ sie ebenso von "Damen und Herren ab 65" aufführen – und brach damit ein Tabu. Alte oder zerbrechliche oder behinderte Körper haben normalerweise keinen Platz auf der Tanzbühne.

    "In der Tanzszene ist die Furcht vor der Endlichkeit vielleicht größer als in anderen Kunstbereichen. Und diejenigen, die bereit dazu sind, alten Tänzern zuzusehen, konfrontieren sich mit gefährlichem Territorium – der eigenen Sterblichkeit. Die Qualitäten, die nach gängiger Ansicht einen guten Tänzer ausmachen sind hohe Sprünge, Schnelligkeit, Wendigkeit, ein geschmeidiger Körper. Dies sind genau die Eigenschaften, die das Alter einem Körper als erstes nimmt. Ein Tänzer oder eine Tänzerin kann das nicht verbergen."

    Der amerikanische Tänzer und Choreograf Merce Cunningham, der 2009 im Alter von 90 Jahren verstarb, tanzte noch, als er schon nicht mehr gehen konnte: Er tanzte lediglich mit seinen Händen.

    Auch Kazuo Ohno in Japan trat bis kurz vor seinem 100. Geburtstag öffentlich auf. Noch im Rollstuhl begeisterte er mit seinem Tanz der Hände das Publikum im großen Theater in Tokyo. Nanako Nakajima führt dies zum Teil darauf zurück, dass in Japan alte Menschen traditionell hohes Ansehen genießen. Der Umgang mit dem alternden Körper im Tanz ist immer auch ein Spiegel der kulturspezifischen Werte und Schönheitsideale einer Gesellschaft.

    "Anders als in Europa und Amerika gründet die japanische Gesellschaft nicht auf einer Jugendkultur. Auch sind Körper und Geist in unserer Philosophie nicht getrennt. Wenn ein Tänzer älter wird, kristallisiert sich seine Persönlichkeit auch in seiner Form zu tanzen – und das ist es, was wir von Tänzern sehen wollen. Mit 60 oder 70 Jahren können sie natürlich nicht mehr mit großen Sprüngen brillieren, stattdessen wissen sie aber genau, wie sie kleinste Bewegungen präzise und wirkungsvoll setzen. Das ist auch ein Geheiminis der Tanzkunst."

    Anna Halprin in San Francisco tanzt noch mit ihrem ganzen Körper. Nach einer Darmkrebsoperation 1972 hatte sie sich von der Bühne zurückgezogen. Sie entwickelte eine eigene Form der Tanztherapie unter anderem für Krebs- und AIDS-Kranke. In den 90er-Jahren kehrte sie, bereits in ihren 70ern, zurück auf die Bühne. Sie schreibt eine Choreografie für Senioren im Schaukelstuhl und tritt in dem Stück "Intensivstation" auf. Mit Laien veranstaltet sie jedes Jahr ein Frühlingsritual für den Frieden. In einem Solo tanzt sie auch wieder nackt – bekleidet nur mit einem Tuch, das ihren künstlichen Darmausgang bedeckte.

    "Üblicherweise zeigt man die Spuren des Alterns am Körper nicht – und verdrängt damit auch Gefühle und Erfahrungen. Ich glaube, Anna Halprin versucht, beides zusammenzubringen. Sie ist noch immer sehr schlank und hat eine wunderschöne aufrechte Körperhaltung. Jeden Tag macht sie ein bestimmtes Bewegungsritual als ihre Form des Bodentrainings. Dennoch hinterlässt das Alter unerbittliche Spuren. Doch sie sagt: Seht, was der Körper noch leisten kann – es ist immer noch interessant, immer noch bewegend und immer noch schön."

    Nach Ansicht von Janice Ross hat das Symposium in Berlin die Tür geöffnet für eine veränderte Tanzästhetik und deren Rezeption. Und Anna Halprin, die immer noch zwei Mal die Woche in ihrem Studio unterrichtet, ist erneut ein Rollenmodell, auch für junge Menschen – für eine neue Art zu altern.

    "Wir haben alle die Bilder ewiger Jugend im Kopf. Die Werbung überhäuft uns mit diesen unerreichbaren Idealen. Anna Halprin ist ein erreichbares Ideal - dafür, wie wir gut altern können. In ihrem nächsten Tanzprojekt will sie sich damit beschäftigen, wie es sein könnte, tot zu sein. In einem anderen Tanz sagt sie allerdings, dass sie 113 Jahre alt werden will. Vielleicht wird sie es auch."