Elke Schmitter über Flüchtlingskinder

"Europa verstößt unaufhörlich gegen seine eigenen Werte"

05:23 Minuten
Ein junges Mädchen steht in einem provisorischen Lager neben dem Lager Moria auf Lesbos in Griechenland im Regen, aufgenommen im November 2019
In einem Flüchtlngslager auf der griechischen Insel Lesbos ist ein Kind an Dehydrierung gestorben. Sollen wir das zulassen? Fragt Elke Schmitters. © picture alliance/Angelos Tzortzinis/dpa
Moderation: Anke Schaefer · 24.12.2019
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Grünen-Chef Habeck will 4000 Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern in Deutschland aufnehmen. Innenminister Seehofer wirft ihm deswegen "unredliche Politik" vor. Schriftstellerin Elke Schmitter pocht dagegen auf europäische Werte.
Geht es nach dem Grünen-Chef Robert Habeck, sollen 4000 unbegleitete Kinder aus überfüllten griechischen Flüchlingslagern nach Deutschland kommen können. Ist das ein Gebot der Nächstenliebe, der Forderung nachzukommen, gerade in der Weihnachtszeit?
"Das Gebot würde im Januar immer noch gelten, und gilt auch im nächsten Juni. Natürlich, selbstverständlich!" sagt die Schriftstellerin und Journalistin Elke Schmitter. "Wir reden über Kinder, über Kriegsflüchtlinge, die innerhalb der EU unter absolut unwürdigen Bedingungen, man kann noch nicht mal mehr sagen ihr Leben fristen, sondern ihr Leben gefährden."
Es gibt allerdings Stimmen, die sagen, ein deutscher Alleingang wäre falsch, man müsse sich auf die europäische Flüchtlingspolitik insgesamt berufen. Innenminister Horst Seehofer sagte in Reaktion auf Habeck, es sei ein "nicht hilfreicher Vorschlag zu einem durchschaubaren Zeitpunkt", und warf dem Grünen-Politiker "unredliche Politik" vor.

Nächstenliebe versus Realpolitik

Unterstützung bekam Seehofer auch vom migrationspolitischen Sprecher der SPD, Lars Castellucci. "Ich glaube, dass es in den Verhandlungen mit den europäischen Partnern in der Tat nicht hilfreich ist, wenn Deutschland von vornherein sagt: ‚Wir machen das alles‘", sagte Castellucci im Deutschlandfunk. "Das ist uns 2015 in einer Ausnahmesituation, in der richtig entschieden wurde, zu helfen, aber hinterher auf die Füße gefallen, dass es ein deutscher Alleingang war."
Elke Schmitter wiederum sieht keine andere Möglichkeit. Griechenland sei überfordert, die Menschen seien in akuter Not und Deutschland habe die Kapazitäten. "Wir reden nicht über hunderttausende Menschen, die ohne Papiere über die Grenze kommen, sondern wir reden über hilflose – wie Habeck sagt ‚zerbrechliche‘ – Menschen", sagt Schmitter.
"Ich finde, es hat etwas Zynisches zu sagen, wir müssen im Grunde genommen den Druck auf die anderen Staaten in der EU hochhalten, indem wir diese Menschen wie so eine Art Geiselmasse behandeln." Das eine sei Nächstenliebe, das andere Realpolitik. "Niemand kann mir erzählen, dass irgendjemand etwas dagegen haben könnte, wenn ein so gut ausgestattetes Land wie die Bundesrepublik sagt, wir helfen."

Keine Versorgung, keine Ärzte in den Lagern

Horst Seehofer sprach von einem zu befürchtenden Sogeffekt, den niemand mehr steuern könne. Er spielte damit auf die Sorgen von Fachleuten an, Schlepper könnten dieses Signal ausnutzen.
Diesen Einwand lässt Elke Schmitter nicht gelten und pocht auf die europäischen Werte. "Europa verstößt an seinen Grenzen schon unaufhörlich gegen seine eigenen Werte. Wenn wir jetzt noch dazu übergehen, auch innerhalb Europas zu sagen, wer es nach Europa geschafft hat, der muss auch unter Umständen gewärtigen, dass sein Kind in einem Lager an Dehydrierung stirbt. Wie das passiert ist: weil es keine Versorgung gibt, weil es keine Ärzte gibt, weil es keine Medikamente gibt, weil die Menschen frieren. Sollen wir soweit gehen? Und das Horst Seehofer, mit seinem ‚C‘ im Parteibuch?"
Unterstützung bekam Habeck auch von Heinrich Bedford-Strohm. Natürlich brauche es eine europäische Lösung, so der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland. Doch das eine schließe das andere nicht aus.
(cwu)
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