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Tarifflucht im Einzelhandel
Wenn Wettbewerb die Löhne drückt

Der Einzelhandel floriert, die Deutschen sind in Kauflaune: Umsatz und Gewinn sind auf Rekordniveau. Doch die Löhne bleiben wegen der im Handel grassierenden Tarifflucht niedrig. Wachstum auf dem Rücken der Beschäftigten - eine Zumutung.

Von Tonia Koch | 27.12.2017
    Viele Menschen sind an einem verkaufsoffenen Sonntag zum Bummeln und Shoppen in die Kölner Innenstadt gekommen, wie hier in die Hohe Straße.
    Auch in Zeiten von Online-Einkäufen: Der Einzelhandel floriert (imago / Manngold)
    Eine Kundin verstaut ihre Samstagseinkäufe im Kofferraum, sie hat einen der bekannten deutschen Lebensmittel-Discounter aufgesucht. Ob der Laden ihrer Wahl seine Beschäftigten nach Tarif entlohnt, darüber hat die Stammkundin noch nicht nachgedacht.
    "Ehrlich gesagt, ich weiß das nicht. Aber ich weiß, dass die Leute, die hier an der Kasse sitzen, schon sehr lange da arbeiten und da sind sie vielleicht nicht so ganz unzufrieden, schätze ich mal. Sonst wäre wohl eine hohe Fluktuation und jeder würde immer wieder wegrennen. Keine Ahnung, wie sie bezahlt werden, darauf habe ich sie auch noch nie angesprochen."
    Sie wirkt ein wenig betroffen und fügt hinzu. "Netto, Aldi, Lidl - da nehme ich an, dass die sich benehmen."
    Ein anderer Kunde, ein Handwerker, äußert Skepsis.
    "Ich glaube nicht, weil ich kenne Mitarbeiter hier drin, also Freunde, die meinen, sie sind unterbezahlt. Ich weiß die Löhne nicht von denen, aber die kommen nicht klar mit dem Lohn, den sie hier bekommen. Sie müssen noch nebenbei einen Job machen."
    Keine Hochlohnbranche
    Beide liegen richtig. Unbestritten ist: Im Handel lässt sich das große Geld nicht verdienen. "Es ist sicherlich richtig, dass der Einzelhandel keine Hochlohnbranche ist."
    Das muss auch Dirk Oliver Wohlfeil einräumen, Tarifexperte beim HDE, dem Deutschen Handelsverband. Ein Blick in den aktuellen Tarifvertrag für den Fachbereich Handel in Baden-Württemberg zeigt, dass eine gelernte Verkäuferin je nach Eingruppierung zwischen 1.777 und 2.528 Euro brutto verdient, wenn sie Vollzeit arbeitet.
    "Naja, es ist ein Tarif, den Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam ausgehandelt haben der Höhe nach, das ist offensichtlich eine marktgerechte Vergütung. Wobei sie immer gucken müssen, in welchem Bundesland sie sich befinden. Wir haben im Einzelhandel 16 Bundesländer und damit 16 Tarifregionen mit zum Teil unterschiedlichen Entlohnungen."
    Ein Einkaufswagen mit Lebensmitteln wird zwischen Regalen geschoben.
    Ein Einkaufswagen mit Lebensmitteln wird zwischen Regalen geschoben. (dpa-picture-alliance)
    Allerdings kommen hierzulande nur noch etwa ein Drittel der Beschäftigten im Einzelhandel überhaupt in den Genuss tarifvertraglicher Regelungen, die zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften für die gesamte Branche ausgehandelt werden. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi redet von Erosion, weil im Westen Deutschlands nur noch 38 Prozent und im Osten lediglich noch 26 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von einem Tarifvertrag profitieren. Zu jenen, die sich trotz massiver Tarifflucht, an die Spielregeln halten, zählen in Deutschland zum Beispiel Lebensmitteldiscounter wie Aldi, Lidl, Netto oder Penny. Sie "benehmen" sich, wie die Kundin es vorhin vermutet hat, denn sie können es sich leisten, sagt der Sozialwissenschaftler Stefan Sell aus Koblenz.
    "Bei Lidl und auch bei Aldi hat man sozusagen den Personaleinsatz absolut flexibilisiert und optimiert. Das heißt, die Leute sitzen eben nicht nur an der Kasse oder machen nur Lagerarbeiten, sondern sie müssen alles je nach Frequenz der Besucher in dem Laden erledigen. Währenddessen wir schon beim größeren Edeka-Laden, aber geschweige denn von Kaufhäusern - wo wir wesentlich mehr Leerzeiten haben für das Personal –, da würde natürlich eine Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge den Kostenblock wesentlich stärker nach oben treiben als bei den Discountern - und das wissen die auch. Deshalb können die sich - bitte in Anführungszeichen - entspannt zurücklehnen."
    "Tarifverträge seit vielen Jahren reformbedürftig"
    Für Lidl sei es aufgrund seiner Personalstruktur ein Leichtes, die gesamte Branche dazu aufzufordern, zu allgemeinverbindlichen Tarifabschlüssen zurückzukehren, argumentiert Sell. Das würde bedeuten, dass sämtliche Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einem Tarifgebiet an die Regelungen gebunden sind, die von den Tarifpartnern ausgehandelt werden. Wird ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt, sind die Unternehmen gezwungen, ihn auch anzuwenden. Im Jahr 2000 verabschiedete sich der Handel jedoch sukzessive davon, die Arbeitgeber kündigten die Allgemeinverbindlichkeit auf. Tarifexperte Dirk Oliver Wohlfeil.
    Seitdem ist es den Unternehmen freigestellt, Tarifregelungen, die in den einzelnen Bundesländern von den Tarifparteien ausgehandelt werden, zu übernehmen oder es zu lassen. 201O ist das Möbelhaus Ikea in diese verbindliche Struktur zurückgekehrt. Seitdem arbeite das Unternehmen in Tarifkommissionen mit, sagt der Leiter für Arbeitsrecht und Soziales bei Ikea Deutschland, Frauke Horstmann.
    "Wir haben sicherlich auch bedingt durch unser Wachstum, es als sinnvoll erachtet, dass wir durch die unmittelbare Tarifbindung dann auch die Möglichkeit zu haben, Tarife ein Stück weit mit zu gestalten."
    Eine Kassiererin nimmt am in einem Supermarkt das Geld einer Kundin entgegen. 
    Teilweise verdienen Kassierer deutlich mehr als Verkäufer (dpa)
    Aber die Tarifparteien kommen nicht vom Fleck. Die Arbeitgeber verlangen zum Beispiel eine Neugewichtung der verschiedenen Berufsbilder im Einzelhandel.
    "Ich gebe einfach mal ein Stichwort, das ist die Funktion des Kassierers. Wir finden heute dort eine sehr unterschiedliche Zuordnung in Tarifverträgen wieder, dass teilweise Kassierer deutlich mehr verdienen als ein Verkäufer. Und typischerweise wird heute beim Einsatz moderner Kassensysteme für eine solche Tätigkeit nicht unbedingt eine Ausbildung verlangt."
    Zwar leugnet Verdi nicht, dass eine Reihe von Positionen im Tarifvertrag Einzelhandel ziemlich angestaubt sind. Aber Anpassungen insbesondere bei den Berufsbildern lehnt die Gewerkschaft mit dem Hinweis ab, dass es den Arbeitgebern in erster Linie gar nicht um Modernisierung gehe. Alex Sauer, Verdi-Vertreter für das Saarland und Rheinland-Pfalz:
    "Das Ziel der Unternehmer ist bei dieser Debatte das Sparen."
    Als Gleichmacherei empfunden
    Andererseits wollen sich die Arbeitgeber in der Frage des Entgeltes keinesfalls bewegen. Vergütungsstrukturen, die für alle Unternehmen bindend sind, werden vom Einzelhandelsverband als Gleichmacherei empfunden. Dirk Oliver Wohlfeil:
    "Bei den Entgelten bleibe ich dabei, da sehe ich keine Notwendigkeit und deshalb werden wir das auch nicht tun."
    Der Discounter Lidl hat vor wenigen Wochen mit der Ankündigung auf sich aufmerksam gemacht, seinen Beschäftigten Löhne und Gehälter zu zahlen, die über den aktuellen Tarifabschluss hinausgehen. Mit Altruismus habe das allerdings nichts zu tun, sondern eher mit dem zunehmenden Fachkräftemangel.
    "Es handelt sich hier um ein Unternehmen das sehr wirtschaftsstark ist und das bewusst über diesen Weg Fachkräfte anlocken will, in dem sie sagen, wir zahlen mehr als die Branche."
    Tatsächlich machen ein paar Prozentpunkte mehr aus den Beschäftigten im Einzelhandel keine Besserverdiener. Nach Angaben der Gewerkschaft liegt der Durchschnittsverdienst bei Verkäuferinnen und Verkäufern der mittleren Tarifgruppe in Deutschland in Vollzeit zwischen knapp 2.000 und 2.500 Euro monatlich. Zuschläge wie Urlaubsgeld sind hierbei nicht mitgerechnet. Für Teilzeit- und geringfügig Beschäftigte, die im Einzelhandelssektor überdurchschnittlich häufig anzutreffen sind, reicht das erzielbare Einkommen jedoch nicht aus, um die Existenz zu sichern. Ihnen drohen geringe Renten und Altersarmut. Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell.
    "Zurückblickend haben die Beschäftigten in dieser Branche eine Menge Geld verloren durch den Tarifdruck und den Lohndruck nach unten. Und wenn es jetzt am aktuellen Rand eine Aufwärtsbewegung gibt, dann ist das erstens gut, zweitens eine Wiederspiegelung der Marktverhältnisse, aber sie gilt nicht flächendeckend, sondern nur da, wo die Unternehmen reagieren müssen."
    Einzelhandel ein gesättigter Markt
    Löhne und Gehälter im Einzelhandel hinken damit der Lohnentwicklung anderer Branchen - wie etwa der Metall- und Elektroindustrie oder der Chemieindustrie - hoffnungslos hinterher. Das sei im Wesentlichen darauf zurück zu führen, dass der Einzelhandel ein gesättigter Markt sei. Wachstum im Handel bedeute deshalb Wachstum auf Kosten des Konkurrenten und Wachstum auf dem Rücken der Beschäftigten. Stefan Sell.
    "Wenn man sich die Kostenstruktur anschaut im Einzelhandel, dann sieht man, dass man die Zulieferer, also die Lieferanten, schon maximal auspresst, was die Preise anlangt. Die Margen sind sehr, sehr niedrig, liegen oft unter einem Prozent Umsatzrendite. Da bleiben ihnen nur die Personalkosten als letzter Kostenblock an dem sie herumfummeln können, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen."
    Von oben sind mehrere Menschen auf einer Einkaufsstraße zu sehen, darunter zwei modisch gekleidete, junge Frauen mit Einkaufstüten in der Hand - aufgenommen am 26.05.2017 in Berlin im Stadtteil Steglitz.
    Viele Kunden wollen ihre Einkäufe ohne Beratung erledigen (dpa / Wolfram Steinberg)
    In der Haupteinkaufsstraße von Saarbrücken, der Bahnhofstraße, drängen sich die Kunden.
    Auf der rechten Seite finden sich bekannte Textil-Marken wie Zara, H&M oder Primark alle tarifgebunden. Viel persönliche Beratung erwartet die überwiegend junge Kundschaft in diesen Läden nicht.
    "Nein, eigentlich brauch ich es nicht, im Grunde genommen weiß ich was ich will, da steuere ich drauf zu, das wird gekauft oder auch nicht. Ich mag das nicht so gerne, wenn Verkäufer auf einen zugestürmt kommen, ich mach das lieber ohne Beratung."
    Intensive Beratung sieht das Personalkonzept der Textilketten auch nicht vor. Anders sieht das auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus. Hier markiert das Traditionshaus Kaufhof den Eingang zur Einkaufsmeile. Die Saarbrücker Filiale ist bereits umgestylt. Eine chique Kaffeebar im Parterre, auffällige Mode-Labels bei Textilien, Schuhen und Taschen erweitern das Sortiment. Doch das neue unternehmerische Konzept greift offenbar nur schleppend, die Umsätze sinken. Ein Grund dafür seien ungleiche Personalkosten, die für Wettbewerbsverzerrungen sorgten, teilt Galeria Kaufhof in einer Pressemitteilung mit. Kaufhof möchte daher - zumindest zeitweilig - aus der Tarifbindung aussteigen und mit der Gewerkschaft einen Beschäftigungssicherungs-Tarifvertrag aushandeln. Konkret: Die etwa 21.000 Mitarbeiter sollen Lohnverzicht leisten, um dem Konzern aus der Klemme zu helfen. Verdi hat angekündigt, das Ansinnen zu prüfen.
    Die gutwilligen der Branche unter die Räder gekommen
    "Der Vorgang wird jetzt so weitergehen, dass wir einen Wirtschaftssachverständigen beauftragen, der die wirtschaftliche Lage des Unternehmen prüft und die Fragen beantwortet: Ist es ein Sanierungsfall, ist das Unternehmen sanierungsfähig, ist der Sanierungsplan geeignet, tatsächlich auch erfolgreich zu sein, sind die Lasten gerecht verteilt?"
    Allerdings könne auch die Gewerkschaft nicht die Augen davor verschließen, dass sozusagen die Gutwilligen in der Branche, die, die sich an Tarifverträge halten, unter die Räder kämen, sagt der Verdi-Verhandlungsführer für Kaufhof, Bernhard Franke.
    "Wir beobachten tatsächlich immer mehr, dass Arbeitsverträge abgeschlossen werden, die 10, 15, 20 Prozent unter dem Tarifniveau liegen. Und das ist ein echtes Problem, da wir einen knallharten Wettbewerb in der Branche haben."
    Letzte Untersuchungen der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2013 haben Gehaltsunterschiede von 10 Prozent für Beschäftigte in nicht tarifgebundenen Märkten ermittelt.
    Auch die saarländische Handelsgruppe Globus - dazu zählen Supermärkte, Elektrofach- und Baumärkte - ist vor geraumer Zeit aus der Tarifbindung ausgestiegen. Globus hat ein eigenes Entgeltsystem entwickelt, das auf die spezifischen Erfordernisse des Unternehmens zugeschnitten ist. Es trage den unterschiedlichen Berufsgruppen Rechnung, die unter einem Dach beschäftigt seien, so das Unternehmen. Nicht alle Globus-Beschäftigten sind davon begeistert. Dave Koch, ehrenamtlich tätiger Betriebsrat.
    "Also der Beschäftigte selbst verhandelt dann mit dem jeweiligen Marktleiter das Gehalt und die anderen grundsätzlichen Arbeitsbedingungen."
    Menschen vor dem Kaufhof am Berliner Alexanderplatz
    Kaufhof: etwa 21.000 Mitarbeiter sollen Lohnverzicht leisten (AP)
    Der Tarifausstieg habe zu einer erheblichen Spreizung der Gehaltsstrukturen geführt, sagt er.
    "Da sprechen wir schon von Zahlen, also ein Beschäftigter, der schon so lange im Handel beschäftigt ist, dass er noch tarifvertragliche Regelungen hat, zu einem Beschäftigten, der nach Tarifaustritt eingestellt worden ist von knapp einem Viertel, also von 10.000 Euro im Jahr."
    Vereinbarkeit von Familie und Beruf
    Allerdings räumt Koch ein, dass das Betriebsklima in den Globus-Baumärkten – dort wo er beschäftigt sei – unter der individuellen Lohngestaltung nicht leide.
    "Unter den Kolleginnen und Kollegen stelle ich persönlich keinen Unterschied im Umgang miteinander fest."
    Das mag auch daran liegen, dass auf andere Faktoren - wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf geachtet wird - und dass keine Fremdfirmen angeheuert werden, die zu Mindestlöhnen Waren in die Regale räumen. Darüber hinaus beteiligt Globus seine Mitarbeiter am Unternehmen. Sie können Unternehmensanteile erwerben, die nach eigenen Angaben weit über marktüblichen Sätzen verzinst werden. Betriebsrat Koch sieht dieses Modell der Mitarbeiterbindung allerdings kritisch.
    "Insgesamt halte ich die Formulierung fast schon für zynisch, weil die Gehälter im Einzelhandel - ob tarifgebunden oder nicht - nicht so hoch sind, dass Beschäftigte regelmäßig Geld über haben."
    Individuelle Lösungen zur Mitarbeiterbindung sind nicht im Sinne der Gewerkschaft. Sie freut sich vielmehr über jene, die wie Ikea, H&M oder Zara, in die Tarifspur zurückgekehrt sind. Aber es bleiben bescheidene Erfolge. Bernhard Franke von Verdi:
    "Das ist ein ziemlich verzweifelter Abwehrkampf, den wir seit vielen Jahren führen im Einzelhandel."
    Hinzu kommt, dass Verdi immer stärker den Zugriff auf die über drei Millionen Beschäftigten des Einzelhandels verliert. Der Organisationsgrad liegt – nach Schätzungen - nur noch bei etwa zehn Prozent.
    An der Kasse der Edeka-Filiale einer saarländischen Landgemeinde geht es zügig voran.
    "Ich gehe hier gerne hin, sie sind gut sortiert hier. Mit dem Personal bin ich auch zufrieden, wenn ich mal eine Frage habe. Die sind immer nett und freundlich, die wissen immer Bescheid."
    "Für mich ist der Tarifvertrag die Richtschnur"
    Seit 37 Jahren ist der Edeka-Markt in Elm ansässig. Gut erreichbar mitten im Ort. Er wird in zweiter Generation von Felix Berghoff geführt.
    "Ich habe alle Spielräume, ich kann handeln und wandeln wie ich möchte. Ich bin ein freier Kaufmann, aber fühle mich der Edeka stark verbunden."
    Berghoff ist einer von 4.000 selbstständigen Händlern. Sie agieren unter dem Dach der genossenschaftlich organisierten Edeka-Gruppe und unterliegen keiner Tarifbindung. Sie unterschieden sich damit grundlegend von den etwa 1.200 Märkten, die der Konzern in Eigen-Regie führt. Denn dort werden die Mitarbeiter nach Tarif vergütet, in den selbstständigen Filialen ist das nicht der Fall. Der Tarif spaltet also die über 350.000 Beschäftigten der Edeka-Gruppe in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Was der Einzelhändler wem bezahlt, handelt er individuell mit seinen insgesamt 37 Beschäftigten aus. Aber wesentliche Abweichungen nach untern könne er sich nicht erlauben, so Berghoff.
    "Für mich ist der Tarifvertrag die Richtschnur. Wenn ich mich daran nicht halte, bekomme ich auch keine guten Mitarbeiter. Wir haben einen festen Bestand bei uns im Haus, langjährige Mitarbeiter, die ich selbst ausbilde, die dann auch bleiben. Ich habe Mitarbeiter, die sind schon 30 Jahre bei mir. Also wenn man sich außerhalb des Tarifvertrages bewegen würden, bekommen sie keine Mitarbeiter."
    Die Gewerkschaft sagt nicht, dass das nicht sein kann. Aber sie ist der Auffassung, dass es eben nicht die Regel ist, sondern dass die eigenständigen Filialisten ihre Mitarbeiter schlechter bezahlen, um sich Wettbewerbsvorteile gegenüber den Konkurrenten zu verschaffen. Alex Sauer, Verdi-Vertreter im Saarland.
    "Ich organisiere über 6.000 Handelsbeschäftigte und da kommen natürlich auch Menschen aus diesen Filialen zu mir, mit denen man sich unterhält. Ich habe noch keinen gefunden, der mit einem Tarifvertrag zu mir gekommen ist."
    Ohne tarifliche Bindung entscheide der Markt. Und gerade auf dem Land laste Druck auf den Löhnen, resümiert Sozialwissenschaftler Sell.
    "Weil dort der Arbeitgeber tatsächlich eher in der Situation ist, dass er Monopolist ist als Arbeitsplatzanbieter. Das ist natürlich in Großstädten nicht nur anders, sondern dort wird es zunehmend schwieriger, Personal zu finden. So dass sich auch die Löhne logischerweise ein Stück weit an diese Situation anpassen müssen, also nach oben gehen müssen."
    Schwarze Schafe in der Branche
    Doch Geld sei nicht alles, sagt Paula, seit 34 Jahren bei Edeka-Berghoff beschäftigt.
    "Ich würde mal sagen, sehr wichtig ist, dass man zufrieden ist mit seinem Job, dass das Miteinander gut klappt. Und dann ist das nicht immer eine Geldfrage. Denn wenn man viel Geld verdienen möchte, dann muss man in die Industrie gehen und nicht in den Handel."
    Die Gewerkschaft kennt diese Einstellung. Alex Sauer.
    "Ein einzeln geführter Händler ist ein Familienunternehmen. Also ich habe eine unmittelbare Beziehung zu meinem Chef. So. Da kann man auch mit geringen Entgelten eine persönliche Bindung über andere Faktoren herstellen. Und ich hab als Arbeitnehmer Möglichkeiten, mich mit einzubringen."
    Allerdings gäbe es genügend schwarze Schafe in der Branche, die Mitarbeiter ausnutzen:
    "Das wird uns aus vielen Bereichen des Handels berichtet, dass geleistete Arbeitszeit nicht vergütet wird."
    Belastbare Zahlen, wie viele Beschäftigte unbezahlte Überstunden leisten, gibt es nicht. In seinem Markt, sagt Felix Berghoff, käme das nicht vor.
    "Gibt es bei mir nicht, definitiv nicht. Definitiv nicht. Würden meine Mitarbeiter auch gar nicht mitmachen. Die kommen bei mir um halb sieben morgens und werden ab halb sieben bezahlt."