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Tarifrunde im Einzelhandel
Zurück zur Tarifbindung "ein sinnvoller Schritt"

Ob Esprit, Edeka oder Amazon: Viele Unternehmen sind nicht mehr in der Tarifbindung und können sich so durch niedrigere Löhne Wettbewerbsvorteile verschaffen. "Nur noch 14 Prozent der Unternehmen sind an den Tarifvertrag gebunden", kritisierte Sozialwissenschaftler Stefan Sell im DLF. Einer Wiedereinführung der Allgemeinverbindlichkeit für alle räumt er aber nur wenige Chancen ein.

Stefan Sell im Gespräch mit Ursula Mense | 02.05.2017
    Ein Mitarbeiter transportiert am 28.04.2017 beim Amazon Logistikzentrum in Rheinberg.
    Verdi kritisiert große Ketten, die gar nicht in der Tarifbindung sind - darunter auch Amazon. Im Bild das Logistikzentrum in Rheinberg. (dpa/Ina Fassbender)
    Ursula Mense: Heute hat in Baden-Württemberg die zweite Tarifrunde für die knapp 500.000 Beschäftigten im Einzel- und Versandhandel begonnen. Nachdem die Arbeitgeber die Forderung der Gewerkschaft Verdi von sechs Prozent mehr Lohn und 100 Euro für Azubis im Monat als völlig unangemessen zurückgewiesen hat, erwartet Verdi seinerseits ein Angebot der Arbeitgeber. In anderen Bundesländern sieht es ähnlich aus.
    Ich habe Professor Stefan Sell von der Hochschule Koblenz gefragt, anlässlich der Tarifrunde im Einzelhandel, warum sich die Arbeitgeber so schwer mit diesen Lohnforderungen tun.
    Stefan Sell: Ich glaube, es sind vor allem zwei große Punkte, die für die Arbeitgeber ins Kontor schlagen.
    Zum einen: Unabhängig von der Höhe der Forderung – und wir wissen ja, dass bei Tarifverhandlungen am Ende dann immer ein anderer Betrag herauskommt als das, was am Anfang von den Gewerkschaften gefordert wird – ist die Tatsache nicht zu übersehen, dass der Tarifvertrag selbst in Baden-Württemberg beispielsweise nur noch für 30 Prozent der 490.000 Beschäftigten, die dort im Einzelhandel arbeiten, überhaupt Geltung hat.
    Das sind auch nur noch 14 Prozent etwa der Unternehmen, die an den Tarifvertrag gebunden sind. Die anderen Unternehmen können davon abweichende Tarife vereinbaren oder Vergütungen für ihre Mitarbeiter vereinbaren, können sich damit betriebswirtschaftlich Vorteile verschaffen.
    Der zweite Grund, der häufig übersehen wird: Die Arbeitgeber dringen seit Jahren auf eine Veränderung der in den sogenannten Manteltarifverträgen festgelegten Arbeitsbedingungen. Da steht zum Beispiel drin, dass es ab 20 Uhr Nachtzuschläge für die Beschäftigten gibt.
    Das wollen die Arbeitgeber auch alles modernisieren, wie sie das nennen. Da hat sich Verdi bisher gegen gesträubt und das sind die beiden Punkte, die den Widerstand erklären.
    Lohndumping nach dem Jahr 2000
    Mense: Kommen wir vielleicht mal zum ersten: die Tarifflucht. Die wird von Verdi ja auch schon lange und heftig kritisiert. Es sind ja auch bundesweit große Ketten wie Peek & Cloppenburg, Esprit oder auch Unternehmen wie Edeka oder Amazon, die gar nicht in der Tarifbindung sind. Dennoch haben die einzelnen Arbeitgeber ja Gründe für ihr Ausscheiden aus der Tarifbindung. Sind die nachvollziehbar?
    Sell: Die sind betriebswirtschaftlich absolut nachvollziehbar. Dazu muss man wissen, in den vergangenen Jahren wurde ja gerade auch in vielen Medien immer wieder über Lohndumping im Einzelhandel berichtet, über teilweise wirklich auch katastrophale Arbeitsbedingungen des Personals (es sind ja überwiegend Frauen, die dort arbeiten in dieser Branche).
    Und man kann das eigentlich relativ genau taxieren, wann das begonnen hat. Das hat nach dem Jahr 2000 begonnen, denn bis zum Jahr 2000 war der Tarifvertrag im Einzelhandel allgemeinverbindlich erklärt. Das heißt, alle Arbeitgeber, auch die, die nicht im Arbeitgeberverband waren, mussten sich an dieses Regelwerk halten.
    Damals hat man von der rot-grünen Bundesregierung auf Druck diese Allgemeinverbindlichkeit aufgehoben und seit diesem Moment macht es wohl gemerkt betriebswirtschaftlich für den einzelnen Einzelhändler Sinn, sich Vorteile zu verschaffen im harten Kostenwettbewerb mit den Konkurrenten, indem man beispielsweise sein Personal etwas oder deutlich schlechter bezahlt, und das steht natürlich auch im Zusammenhang mit der Expansion, die wir in den vergangenen Jahren zumindest im Einzelhandel gesehen haben.
    Wir haben eine deutliche Zunahme der Verkaufsflächen und wir haben eine gewaltige Expansion der Öffnungszeiten.
    Zurück zur Tarifbindung "ein sinnvoller Schritt"
    Mense: Das heißt, dass man dahin zurückfinden könnte, zur Tarifbindung, und dafür ist ja Dreh- und Angelpunkt die Allgemeinverbindlichkeit, da sehen Sie zurzeit auch überhaupt keine Chancen?
    Sell: Es wäre zumindest gerade in dieser Branche tatsächlich eigentlich ein sinnvoller Schritt. Auf der anderen Seite muss man wissen: Die Allgemeinverbindlichkeit kann nur erklärt werden, wenn beide, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, das beantragen.
    Dann wird ein Ausschuss einberufen in Berlin und der entscheidet darüber. In diesem Ausschuss sitzen die Spitzenorganisationen der Arbeitgeber, also auch andere Arbeitgeber, und wir wissen leider aus der Vergangenheit, dass die oftmals diese Anträge, selbst wenn die Arbeitgeber der Branche das unterstützt hätten, was in diesem Fall in Baden-Württemberg nicht der Fall ist, aber selbst wenn das so wäre haben die das abgeschmettert, weil man dort generell gegen die Allgemeinverbindlichkeit ist.
    Mense: Soweit Professor Stefan Sell von der Fachhochschule Koblenz anlässlich der beginnenden Tarifrunden im Einzelhandel.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.