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Tasse im Schrank

Über das Schenken kann man viel philosophieren. Heute macht sich die Schriftstellerin Kathrin Schmidt Gedanken. Sie ist Trägerin des Deutschen Buchpreises 2009.

Von Kathrin Schmidt | 30.12.2009
    Vier meiner Kinder sind nun aus dem Hause, wie man so schön sagt. Mein jüngster Sohn blieb allein mit und bei seinen Eltern zurück. An einem Sonntag vor einigen Wochen war er in unseren Schränken auf der Suche nach einer weißen Tasse. Ich konnte ihm da zunächst nicht helfen, denn unser Alltagsgeschirr zeigt eine dünne blaue Linie als Begrenzung, und das Nicht-Alltagsgeschirr ist ein elfenbeinfarbiges Fünfzigerjahre-Porzellan mit Blütenmuster.

    Wenig später jedoch fiel mir zum Glück ein, dass ich vor Jahren einmal hohe schneeweiße Kaffeetassen gekauft, wegen der auszugsbedingten Familienschrumpfung sie dann allerdings in einem Karton auf dem Dachboden vergessen hatte. Nun, da sie mir wieder eingefallen waren, holte ich sie herunter.

    Sechs schöne, weiße Tassen mit anmutig geformten Füßen, ich bekam sofort Lust, dicken schwarzen Kaffee daraus zu trinken. Eigentlich gefielen sie mir. Vermutlich hatte ich sie einst "für später", für eine der Töchter verpackt, die inzwischen ja längst in eigenen Wohnungen lebten und niemals auch nur den Anklang eines Wunsches nach sechs einfachen, weißen Kaffeetassen mit Fuß geäußert hatten. Ich seufzte hörbar, spülte eine der Tassen aus, stellte sie in den Automaten, den ich mir vor zwei Jahren geleistet hatte und verging beinahe im Vorgefühl der unbeschreiblichen Crema.

    Was wollte mein Sohn eigentlich mit der Tasse anfangen? Noch ehe ich ihm diese Frage hätte stellen können, war er mit einem Exemplar in sein Zimmer auf der oberen Etage unseres Hauses entwischt. Ihm hinterher zurufen, hätte meinen seit dem Auszug auch des vorletzten Sohnes am Wochenende stets mittagsschlafenden Mann sicher beim süßen Träumen gestört, und ihm hinterherzulaufen, kollidierte mit den röchelnden Schlußgeräuschen der Maschine – mein Kaffee war fertig. Am Abend stellte ich die fünf verbliebenen Tassen in den Geschirrspüler, um sie ab dem kommenden Morgen dem täglichen Küchendurchlauf wieder anzuvertrauen.

    Dabei ging mir versehentlich eines der guten Stücke kaputt, der Henkel brach ab, mit dem ich in kühnem Schwung einen bereits auf der oberen Ablage stehenden Topf gerammt hatte. Ich sagte mir, daß die gerade Zahl Vier sicher besser sei als die ungerade Fünf, und entsorgte die Trümmer achselzuckend.

    Zum Heiligabend waren die ausgezogenen Kinder vollzählig erschienen mit Schwiegerkind-Anwärtern und Enkeln. In trauter Runde gelangten Geschenke an die Empfänger. Ich empfing aus der Hand meines Jüngsten eine dicke Serviette mit zusammengebundenen Zipfeln. Daraus hervor kam eine Tasse mit anmutig geschwungenem Fuß, die aber schwarz grundiert und mit grellbunten Streifen versehen worden war. Erwartungsvoll sah der Junge mich an. Ich wusste augenblicklich, dass es ans Impulseschlucken gehen musste, wenn ich die Situation nicht vollständig verderben wollte. Also schäumte ich Freude auf wie sonst nur Kaffee und drückte ihn.

    Die Tasse, bemalt mit Fensterfarbe, hat er in der Schule gestaltet, "für die Mutti", wie eine beigelegte Karte auswies. Im Vitrinenschrank des Wohnzimmers fand sie einen Platz. Dass ich daraus keinen Kaffee trinke, habe ich mit der Unwiederbringlichkeit ihrer Schönheit begründet, falls sie doch einmal irrtümlich in den Geschirrspüler gerät.