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Tatsachenliteratur mit Fantasie

Ryszard Kapuscinski gilt in Polen als "Kaiser der Reportage" - trotz jüngst aufgekommener Zweifel an seinem Umgang mit den Tatsachen. Grund genug, noch einmal neu auf das Werk dieses Autors zu schauen. Eine Gelegenheit bieten die frühen Reportagen Kapuscinskis, die nun auf Deutsch erschienen sind.

Von Martin Sander | 01.07.2010
    Die Erfolgsgeschichte des "Jahrhundertreporters" Ryszard Kapuściński begann irgendwann in den späten 50er-Jahren. In Polen gehört der stalinistische Überwachungsstaat der Vergangenheit an, das Tauwetter prägt die Gesellschaft. Die kommunistische Partei, seit 1956 unter der Führung von Władysław Gomułka, lässt Reformen zu, gewährt eine Zeit lang mehr Pressefreiheit. Unter diesen Bedingungen kann eine neue Zeitschrift gegründet werden, die "Polityka", die sich unter der Chefredaktion von Mieczysław Rakowski zum Flaggschiff der Parteiformer entwickelt und – im Vergleich zu anderen Staatsmedien – ungewöhnliche Popularität beim Publikum gewinnt. Diese Popularität hat sie nicht zuletzt den Reportagen des jungen Historikers und Journalisten Ryszard Kapuściński zu verdanken. In der Vergangenheit war auch dieser Kapuściński durch manches Stalin verehrende Pamphlet aufgefallen. Nun gibt Rakowski ihm die Möglichkeit, sein Talent frei zu entfalten.

    Kapuściński: "Die Reportage faszinierte mich. Ich fuhr durch das Land und lernte eine Welt kennen, die für mich neu war, die polnische Provinz mit all ihren Problemen, ihrer Armut, dem schlechten Leben. Das wollte ich beschreiben."
    Kapuścińskis Reportagen jener Jahre verkörpern gesellschaftskritische Miniaturen, die weitgehend ohne Tabus auskommen, auch wenn ihr Autor ein Kommunist aus Überzeugung ist und nicht aus Opportunismus, ein Kommunist, der die Notwendigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht in Zweifel zieht. Kapuściński erzählt Geschichten aus dem Alltag der kleinen Leute, oft abseits der großen Städte. Immer wieder stehen dabei Menschen im Mittelpunkt, die auf hilflose, nicht selten skurrile Art gegen die Wirklichkeit aufbegehren oder den von oben vorgegebenen Lebensmustern entkommen wollen. Zwei deutsche Frauen aus Masuren fliehen aus dem staatlichen Altersheim und fordern – sehr zum Schrecken der neuen Bewohner – ihre alten Häuser zurück. Eine katholisch motivierte Kleinstadtmeute macht Jagd auf eine schöne junge Fremde, die einem Bildhauer in der örtlichen Kirche als Modell für eine Madonna dient. Kapuściński mischt sich unter verkrachte Studenten, die von der Hand in den Mund leben und unter junge Arbeiter, die ruhelos von Ort zu Ort wandern, weil sie mit der kleinbürgerlich sozialistischen Ordnung nichts anzufangen wissen.

    Hat da nicht einer gesagt, 100 Kilometer weiter sei es besser? Besser? Dann nichts wie hin. Was hat man zu verlieren? Den mürrischen Chef, den Winkel im Wohnheimzimmer? Was hat man zu gewinnen? Alles. Und schon sitzen sie im Zug und jagen dahin. Aus einem Milieu gerissen, können sie in keinem anderen Wurzeln schlagen. Weil sie überall sofort misstrauisch aufgenommen werden. Wenn du so rumstrolchst in der Welt, mein Lieber, kann dein Gewissen nicht rein sein. Sie sind überall fremd, stören die Ordnung der Kleinstadt, die Ruhe und Harmonie in der Siedlung, die Harmonie am Arbeitsplatz. Sie brauchen keine Rücksicht auf Urteile zu nehmen, daher urteilt man schlecht über sie.
    Mitunter lebt der Reporter eine Weile mit seinen Protagonisten zusammen, und man gewinnt bei der Lektüre dieser Texte nicht selten den Eindruck, schon damals sei es Kapuściński, dem späteren Chronisten der internationalen Befreiungskriege und Umstürze, darum gegangen, den uniformen Lebensverhältnissen des sozialistischen Polen zu entkommen. Gerade in jenen späten 50er- und frühen 60er-Jahren machte das Land eine Phase der sogenannten kleinen Stabilisierung durch. Die größten äußeren Schäden des Zweiten Weltkriegs schienen behoben. Die Produktion von Konsumgütern kam in Gang. Bescheidener Wohlstand machte sich bemerkbar, zumindest in den gehobenen Schichten der großen Städte. Kapuściński suchte etwas anderes:
    "Der Reporter musste, wenn er durch das Land fuhr, auf Heuschobern schlafen, denn es gab damals ja gar keine Hotels. Wir führten ein graues, armseliges Leben. Aber das gefiel und erfüllte uns mit großer Genugtuung."
    Die Reportagen des 1962 in Polen erstmals erschienenen und erst jetzt auf Deutsch veröffentlichten Bandes spielen in Polen – mit einer Ausnahme. 1962 war der Autor bereits mehrfach als Korrespondent ins Ausland entsandt worden und stand gerade im Begriff, seinen internationalen Ruhm als Berichterstatter über die damalige Dritte Welt zu begründen. Bezeichnend dafür, wie Kapuściński seine antibürgerliche, von revolutionärer Emphase getragene Sympathie, die im sozialistischen Polen der Gomułka-Ära den Außenseitern der Gesellschaft gilt, zum Beispiel auf die unterdrückte Urbevölkerung Afrikas überträgt, ist der letzte Text dieses Bandes unter dem Titel "Busch, polnisch". Der Reporter besucht ein Dorf in Ghana.


    Polen.
    So ein Land kannten sie nicht.
    Die Alten schauten mich unsicher oder argwöhnisch an, einige auch neugierig. Ich wollte dieses Misstrauen irgendwie überwinden. Ich wusste nicht wie und war müde.
    "Wo liegen eure Kolonien?" fragte (der Dorfälteste) der Nana.

    Als Chronist der großen Umbrüche in der Dritten Welt ist es Ryszard Kapuściński gelungen, ohne eurozentrischen Blick zu schreiben. Tatsächlich scheinen ihm seine Protagonisten stets auf die gleiche Art nah oder fernzustehen – egal, ob er sich durch Afrika oder Asien bewegt oder in seiner Heimat Polen aufhält. Worüber auch immer er gerade berichtet, nichts ist ihm selbstverständlich, jedes noch so alltägliche Detail weckt seine Neugier. Dahinter steckt gewiss nicht nur politische Überzeugung, das politische Bewusstsein für Gleichheit und Gerechtigkeit. Es geht auch um eine gemeinsame Erfahrung, die Kapuściński mit den Menschen in den ehemaligen Kolonialgebieten dieser Welt teilt – die Unsicherheit, verursacht durch Krieg und Gewaltherrschaft. Es geht um jene die Persönlichkeit formenden Muster, die den Autor selbst als Kind und Jugendlichen im Zweiten Weltkrieg geprägt haben und die er später in den Kampfzonen außerhalb Europas wiederfindet. Aufschlussreich für diesen Zusammenhang ist der den frühen Reportagen vorangestellte, aber erst in den achtziger Jahren entstandene Text "Gedächtnisübungen". Diese Gedächtnisübungen entstammen einer Zeit, in der sich Kapuściński von der Partei ab- und den gewaltlosen Rebellen der Solidarność zugewandt hatte. Er war kein Privilegierter des Regimes mehr, aber auch kein kommunistischer Revolutionär, der in Afrika in den siebziger Jahren selbst zur Waffe gegriffen hatte. Nun versucht Kapuściński, der Verinnerlichung von Gewalt am eigenen Beispiel auf die Spur zu kommen.

    Das Bild des Krieges ist getränkt mit der Atmosphäre der Kraft, der physischen, dinglichen, eisenklirrenden, qualmenden, immer wieder explodierenden, ständig jemanden attackierenden Kraft, die in jeder Geste ihren Ausdruck findet, in jedem Stiefeltritt aufs Pflaster, jedem Kolbenhieb über den Kopf.
    Wir gehen durch eine Welt voll hasserfüllter Blicke, zusammengekniffener Lippen, Gesten und Stimmen, die uns Schrecken einjagen.
    Lange Zeit war ich der Meinung, dies sei die einzige Welt, so schaue die Welt aus, das sei das Leben.

    Der allseits verehrte Kapuściński ist durch die jüngst in Polen erschienene kritische, Biografie von Artur Domosławski von seinem Podest gestürzt und zu neuem Leben erweckt worden. Man weiß jetzt, dass in seiner Dokumentar- oder Tatsachenliteratur weitaus mehr Fantasie steckt, als bislang vermutet, dass der Autor an seinem eigenen Mythos kräftig mitgewebt hat, dass er es mit der Wahrheit im journalistischen Sinne nicht immer genau nahm. So sollte man auch seine frühen Reportagen als einfühlsam und spannend erzählte Geschichten lesen und den Umstand in Betracht ziehen, dass in der Literatur auch die Lüge den Blick auf die Wirklichkeit eröffnen kann.

    Ryszard Kapuściński: "Ein Paradies für Ethnographen. Polnische Geschichten". Aus dem Polnischen von Martin Pollack und Renate Schmidtgall, mit einem Vorwort von Martin Pollack, Eichborn Verlag, 175 Seiten, 16,95 Euro