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Tauwetter über den Gipfeln der Welt

Der Schnee in tieferen Lagen bleibt immer öfter aus, das Eis der Gletscher schmilzt. Das sind die offensichtlichsten Folgen des Klimawandels in den Alpen. Doch die Erwärmung führt auch zu Veränderungen in Europas höchstem Gebirgsmassiv, die weniger bekannt sind: Sie bedroht Gipfelregionen und Schattenflanken, die bisher dauerhaft gefroren waren. Solche "Permafrost-Bereiche" gibt es auch auf Deutschlands höchstem Berg, der Zugspitze.

Von Volker Mrasek | 16.11.2008
    Tauwetter über den Gipfeln der Welt.

    "Dieser Zug fährt Richtung Grainau, Eibsee und Zugspitze, über Hausberg, Kreuzeck/Alpspitzbahn und Hammersbach."

    "Nächste Station Kreuzeck/Alpspitzbahn. Zum Aussteigen bitte Haltewunschtaste drücken."

    Krautblatter:

    "Die Vorstellung von Fels muss man vielleicht etwas überdenken, gerade hier an der Zugspitze. Der Fels erscheint uns auf den ersten Blick homogen. Aber er hat viele Poren in sich. Da ist Wasser drin. Das kann gefrieren zu Eis. Und natürlich hat jeder Fels auch sehr viele Spalten."

    "Bitte in Fahrtrichtung links aussteigen."

    Haeberli:

    "Je mehr Klüfte vorhanden sind, desto mehr Eis ist im Inneren der Berge vorhanden. Tatsächlich ist man oft völlig überrascht über das Ausmaß des Eises. Oft ist das ein wesentlicher Bestandteil von diesen Hochgebirgsgipfeln. An und für sich sieht man Permafrost ja nicht. Er ist ja unter der Erde. Das ist das Hauptproblem."

    Krautblatter:

    "In Deutschland gibt’s eigentlich an ganz wenigen Stellen bloß tatsächlich Permafrost. Und auch selbst die Zugspitze als höchster Berg Deutschlands ist absolut an der Untergrenze des Permafrostes. Also, wir haben jetzt hier gerade noch die letzten Relikte von Permafrost, und die reagieren sehr, sehr sensibel auf Veränderungen. Das heißt, wir können hier ein System beobachten, was sich sehr schnell verändert."

    Haeberli:

    "Nicht, wenn der Permafrost vollkommen weg ist, wird es heikel, sondern wenn der Permafrost noch da ist, aber ganz warm, nahe null Grad. Dann hat man nämlich Fels, Eis und Wasser. Und dieses Gemisch ist eigentlich am heikelsten."

    Die Alpen, Westeuropas gewaltigstes Gebirgsmassiv. Mehr als 4.800 Meter ragt der Mont Blanc in die Höhe, auf fast 3.000 bringt es die Zugspitze. Viele Dutzend Gipfel in diesen Sphären sind dauerhaft gefroren, im Winter wie im Sommer. Wilfried Haeberli und andere Experten sprechen von Permafrost. Der Schweizer forscht schon seit drei Jahrzehnten über das Phänomen. Haeberli ist Professor für Geographie an der Universität Zürich:

    "In der Tat stabilisiert dieser Permafrost die Felswände. Der entscheidende Faktor ist, dass das Eis in den Klüften den Berg für das Wasser völlig wasserdicht macht. Also, ein stark geklüfteter Berg im Permafrost ist hydraulisch, also gegenüber dem Wasser, wie ein massivster Granit. Und wenn der Permafrost dann schmilzt, dann dringt das Wasser in den Fels ein. Das führt zu raschen thermischen Störungen und zu einer Destabilisierung der Felspartien."

    Die Alpen bekommen den Klimawandel zu spüren. Und es gibt bereits sichtbare Indizien dafür: Die großen Gebirgsgletscher ziehen sich zurück. Alpenpflanzen erobern höhergelegenes Terrain, die Baumgrenze verschiebt sich nach oben. Derweil bleibt in tieferen Lagen der Schnee aus. Doch die Klimaerwärmung hat eine weitere, weniger augenfällige und doch gravierende Konsequenz: Sie weicht den Permafrost auf, die Eis-Versiegelung der Alpengipfel. Und ohne sein Fugendichtmittel verliert der Fels seine Festigkeit. So auch an der Zugspitze:

    "Die Zugspitze ist eben sehr interessant, weil es genau dieses System auf der Kippe ist, das jetzt von einem ehemals permafrostdominierten System in ein wahrscheinlich in zehn Jahren komplett ausgetautes System geht. Und wir können hier beobachten: Was passiert an diesem Übergang?"

    Michael Krautblatter von der Universität Bonn. Der Geograph schreibt zur Zeit seine Doktorarbeit und fährt des öfteren mit der Zahnradbahn auf Deutschlands berühmtesten Gipfel. Eineinviertel Stunden braucht sie von Garmisch-Partenkirchen bis zur Endstation in 2.580 Metern Höhe.

    "Jetzt sind wir auf dem Zugspitzplatt, wo die Hangbahn losgeht. Das ist eine Bahn, die nur zu uns zum Schneefernerhaus raufgeht. Und die nicht für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Ist nur für unsere Forscher."

    Umsteigen von der Zahnrad- in die Seilbahn. Im nächsten Schritt geht es auf 2.650 Meter Höhe. Zusammen mit Hannes Hiergeist, Mitarbeiter des Schneefernerhauses ...

    "Wir fahren jetzt schon in die Bergstation des Schneefernerhauses ein. Jetzt sind wir schon da. Hier kommt aus dem Nebel das ehemalige Sporthotel Schneefernerhaus, das jetzt Umweltforschungsstation ist."

    Bis zum Zugspitz-Gipfel ist es von hier aus nicht mehr weit. Etwas mehr als 300 Höhenmeter. Oberhalb der Forschungsstation beginnt allmählich die kritische Zone: der Bereich, in dem der Fels das ganze Jahr über gefroren ist- zumindest stellenweise. Doch unter dem Einfluss steigender Außentemperaturen schwindet der Permafrost an der Zugspitze inzwischen extrem stark, wie Geoforscher Krautblatter sagt. Das hat Folgen. Es kommt zu Felsstürzen in die umliegenden Täler. Krautblatter:

    "Eine Häufung der Ereignisse hat’s im Jahr 2003 gegeben. Mit zwei größeren Felsstürzen, die ins Höllental gegangen sind. Das Höllental ist touristisch sehr stark genutzt. Das ist halt der übliche oder der spannendste Aufstiegsweg zur Zugspitze. Und die sind zum Glück an Tagen passiert, wo da wenig los war. Die sind wahrscheinlich fast 1000 Meter abgestürzt insgesamt. Oder im benachbarten Reintal hier ist im letzten Winter ein größerer Felssturz runter. Den haben wir noch nicht vermessen. Aber der liegt wahrscheinlich auch in der Größenordnung von etlichen tausend Kubikmetern. Also, das sind schon ganz bedeutende Felsstürze, die hier abgegangen sind."

    Für großes Aufsehen sorgen auch immer wieder Felsstürze am Matterhorn in der Schweiz. Inzwischen ist es zu einem der Hausberge für Wilfried Haeberli in Zürich geworden ...

    "Beim Matterhorn ist es zur Zeit so: In dem Bereich, wo die Felsstürze sich jetzt ereignen – fast jedes Jahr gehen dort Felsstürze herunter – haben wir Temperaturen so ganz nahe von null Grad. Null, minus ein Grad. Und das kennen wir heute als die instabilste Situation."

    Das gleiche Bild am Mont Blanc, am Eiger und auf vielen anderen Drei- und Viertausendern in den Alpen: Über allen Gipfeln herrscht Tauwetter und drängt den Permafrost zurück. Der Fels wird instabil, ganze Gesteinspartien lösen sich von den aufgeheizten Bergspitzen. Mit dem gewohnten Steinschlag wie ihn Alpinisten kennen, hat das nichts mehr zu tun. Haeberli:

    "Das, was uns am meisten beschäftigt, das sind die Bergstürze. Also, das sind Stürze von Gesteinspaketen von Zehnern von Metern Mächtigkeit. Wir sprechen von Millionenstürzen, also mehr als eine Million Kubikmeter. Da haben wir seit 1980 etwa alle vier, fünf Jahre einen Bergsturz in den Alpen aus dem Permafrost. Es ist zum Beispiel 2004, auf der Südflanke des Ortler-Gebietes – Turwieserspitze - ein Sturz von mehreren Millionen Kubikmetern ganz typisch aus einer solchen Situation heruntergegangen. Wir untersuchen all diese Sturzereignisse systematisch mit Modellrechnungen hinterher: wie die Temperaturverhältnisse im Anrissgebiet wahrscheinlich gewesen sind. Und da stellt man schon fest: Es ist sehr oft eine Situation, in der der Permafrost nur noch auf der kalten Seite vorhanden ist und auf der warmen Seite nicht mehr, wo sich dann diese großen Stürze lösen."

    Auf der Zugspitze sind die Verhältnisse nicht anders. Ein potentielles Permafrost-Profil hat die Zürcher Geographin Jeannette Nötzli bereits abgeschätzt, mit Hilfe eines speziellen Energiebilanz-Modells. Die Doktorandin in der Arbeitsgruppe von Wilfried Haeberli fütterte die Computersimulation mit meteorologischen und topographischen Daten von der Gipfelregion. Nötzli:

    "Im Grundsatz stimmt das genau: Es gibt eine Südseite, die sehr wahrscheinlich keinen Permafrost hat, also positive Temperaturen. Und eine Nordseite, die kalt ist. Und dann gibt es eine Permafrost-Grenze, die verläuft dann mehr oder weniger senkrecht im Berg drin."

    Also auch hier: ein Gipfel, dem eine wärmer werdende Atmosphäre den Permafrost austreibt. Die Südseite gilt schon als eisfrei, und die Wärme frisst sich immer weiter durch den Fels, Richtung Norden. Der poröse Wetterstein-Kalk des Zugspitz-Gipfels verliert seinen Halt. Für Michael Krautblatter ist die Datenlage eindeutig:

    "Was wir zur Zeit sehen, wenn wir die Daten der Abtragung also von diesen kleineren Sturzereignissen vergleichen mit anderen Gebieten, dann haben wir unheimlich intensive Abtragungsraten hier."

    Auch deshalb wird Deutschlands höchster Gipfel nun intensiver durchleuchtet. Die beteiligten Forscher verstehen das als wichtigen Beitrag zur Risikovorsorge, zum Schutz vor gefährlichen Felsstürzen an der Zugspitze. Das Bayerische Landesamt für Umwelt hat eine armdicke Bohrung quer durch den Gipfel getrieben und mit Sensoren bestückt. Sie überwachen nun rund um die Uhr Temperatur und Felsbewegungen. Um die letzten Permafrost-Reste genau zu lokalisieren, dringen die Bonner Geowissenschaftler selbst in das Innere des Berges vor. Krautblatter:

    "Wir befinden uns jetzt im 7. Stock vom Schneefernerhaus. Und hier gibt’s eine direkte Verbindungstür in den Kammstollen, so heißt der. Dieser Kammstollen, der führt uns direkt an die Nordwand der Zugspitze, bis auf 2.800 Meter Höhe. Und eben in einen Bereich auch, wo wir dann vereiste Bereiche in den Felsen antreffen."

    "Also, dieser Stollen ist im unteren Bereich vielleicht zwei Meter hoch, ein, zwei Meter breit. Er ist grob in den Fels geschlagen, und er ist eigentlich immer feucht. Bis zum gefrorenen Teil haben wir jetzt ungefähr vier-, fünfhundert Meter vor uns. Und dann laufen wir so 100, 150 Meter durch den gefrorenen Fels."

    Es ist nur schwer vorstellbar: Vor über 70 Jahren wurde ein Stollen quer durch den Zugspitzgipfel getrieben. Skifahrer aus Österreich stiefelten samt Ausrüstung durch die funzlige Röhre, um auf die deutsche Seite zu gelangen. Denn schon damals ließ es sich auf dem Zugspitzplatt vortrefflich durch den Tiefschnee wedeln. Krautblatter:

    "Wir laufen jetzt unter dem Grat der Zugspitze entlang. Also, wir sind jetzt auch Grenzgänger. Wir laufen jetzt gleich von der deutschen in die österreichische Seite hinein."

    "Also, man merkt jetzt schon den Nebel, der uns entgegenkommt. Der rührt auch daher, dass jetzt auch ab hier die Temperatur deutlich runtergeht im Gang. Es sind jetzt hier an der Wand ungefähr noch ein Grad Celsius. Es tropft viel stärker. Also, wir kommen jetzt an den Rand der Permafrost-Linse."

    "So, und ab hier wird’s jetzt eben ein bisschen glatt. Da müssen wir ein wenig aufpassen."

    Dort, wo das Eis erkennbar zu Tage tritt, wartet schon Sarah Verleysdonk. Auch sie zählt zum Permafrost-Erkundungsteam der Universität Bonn. Auch sie trägt die obligate Ausrüstung: dicke Outdoor-Jacke, Schutzhelm und Stirnlampe. Ziemlich genau 60 Meter unter dem Gipfelgrat verschwinden die Tunnelwände unter einem Teppich von Eiskristallen und an der zerklüfteten Kalkstein-Decke hängen fingerdicke Eiszapfen. Verleysdonk:

    "Meine Aufgabe ist jetzt hier, die Temperatur zu messen. So. Wir kommen jetzt also in Werte um die 0 Grad. Und werden uns gleich in den richtig gefrorenen Bereichen auch in Werten bis unter 0 Grad bewegen."

    Mit Temperaturmessungen allein lässt sich der Permafrost aber nicht genau lokalisieren. Dazu bedarf es anderer, viel raffinierterer Methoden. Michael Krautblatter hat seinen Rucksack abgelegt und kauert vor einer Materialkiste aus Aluminium. Darauf steht ein Computer. Der Bildschirm strahlt in die Dunkelheit des Bergstollens.

    "Was wir hier haben, ist ein kleiner Feld-Laptop. Also, er funktioniert bei Schnee, bei Regen, bei allen Bedingungen. Und natürlich auch hier in dem Gang, wo es ständig drauftropft, wo es ständig dreckig ist und daneben, das piepsende Gerät, das ist eigentlich das Herzstück unserer Messung. Das ist die Geo-Elektrik. Die ist mit zwei Kabeln verbunden. Und diese Kabel hängen an 40 verschiedenen Elektroden. Jede Elektrode ist eine Schraube im Fels. Und wir können praktisch an jeder Elektrode Strom anlegen und zu einer anderen führen. Und durch diese Kombination der ganzen Elektroden können wir den gesamten Fels unter Strom setzen, in immer anderen Konfigurationen. Und eben sehen: Wo ist gefrorener Fels, und wo ist nicht gefrorener Fels."

    "Man muss sich vorstellen: Jedesmal, wenn die piept, dann schalten die Kabeltrommeln wieder um, und wir legen Strom an eine andere Elektrode. Und dann wird wieder da gemessen."

    Die Bonner Geoforscher haben sich darauf spezialisiert, Berggipfel zu durchleuchten. Ihr Verfahren nennen sie Fels-Tomografie. Ein Begriff, der nicht zufällig der Medizintechnik entlehnt ist, wie Krautblatter etwas später genauer erläutert - nach der Rückkehr aus dem Stollen, während einer kurzen Mittagspause im Schneefernerhaus:

    "Also, optisch schaut das genauso aus wie eine Hirn-Tomografie auch. Eine Hirn-Tomografie detektiert zum Beispiel einen Tumor in einem Hirn. Der wird dann in einer anderen Farbe markiert. Und das Gleiche machen wir mit Felsen. Wir machen Tomografien. Wir würden alle gerne in den Fels hineinsehen. Aber wir können nicht ganz mit unseren Augen hineinsehen. Und das Auge oder die Brille, die wir nutzen, ist die Leitfähigkeit von Gestein. Und die verändert sich sehr stark, sobald der Fels gefriert."

    Deswegen die vielen Elektroden, außen am Berg und innen im Stollen. Der Stromfluss zwischen ihnen verrät, wie leitfähig der Fels ist. Krautblatter:

    "Es ist dazu nicht nötig, dass man in den Fels bohrt. Sondern auch wenn wir eine waagerechte Linie an den Fels anbringen, können wir durch geschickte Überlagerung dieser ganzen Informationen von Elektroden in eine gewisse Tiefe gucken. Was wir da oben haben, sind 200 Meter lange Auslagen, das heißt von der letzten Elektrode bis zur ersten sind es 200 Meter. Und das ermöglicht uns, ungefähr 30 Meter tief in den Fels hineinzugucken."

    Doch das ist nur die eine Brille, wie Krautblatter sie nennt. Es gibt eine zweite, die die Bonner aufsetzen, um gleichsam einen Blick in den Gipfel-Fels werfen zu können.

    "Da geht’s drum, Schallwellen durch den Fels zu jagen. Diese Schallwellen werden mit einem großen Vorschlaghammer ausgelöst, an ganz vordefinierten Stellen. Und dann stecken sehr viele Mikrofone im Fels. Und die gucken: Wie ist die Reflektion, und wie ist die Brechung der Schallwellen im Fels? Und die Eigenschaft, die wir da ausnutzen, ist, dass sich der Schall in gefrorenem Fels ein kleines bisschen schneller bewegt als in nicht gefrorenem Fels. Und auch daraus können wir eine Tomografie entwickeln, die uns ’ne räumliche Verbreitung von gefrorenem Fels anzeigt."

    Es ist zwar längst nicht der höchste Berg der Schweiz. Mit genau 2.973 Metern überragt das Schilthorn im Berner Oberland so gerade eben die Zugspitze. Aber es ist dennoch berühmt. Jeanette Nötzli:

    "Das Schilthorn? In erster Linie für den James-Bond-Film, den die da gedreht haben in den 70er Jahren."

    Es war der 6. Film der Bond-Reihe: Im Geheimdienst Ihrer Majestät. Mit halsbrecherischen Ski-Abfahrten vom Piz Gloria, dem Gipfel-Restaurant auf dem Schilthorn.

    "Das hat eine Plattform drin, die sich dreht. Also, da kann man sitzen. Und es geht, glaube ich, eine halbe Stunde oder eine Stunde, bis man da einmal rundherum gefahren ist. Also, man sollte nicht seine Handschuhe oder seinen Fotoapparat auf dem Fensterablage legen. Sonst ist es dann plötzlich am anderen Ende vom Restaurant."

    Wenn Jeannette Nötzli hoch aufs Schilthorn fährt, dann allerdings nicht, um bei einem Stück Kuchen die Aussicht zu genießen.

    "In den 60er Jahren hat man diese Station gebaut, das Restaurant und die Seilbahnstation. Da hat man zum ersten Mal Permafrost gefunden auf dem Schilthorn. Also, man hat massives Eis gefunden bei den Bauten. Und seither haben da sehr viele Forschungsaktivitäten stattgefunden. Ich glaube, neben dem Corvatsch ist das Schilthorn der bestuntersuchte Permafrost-Berg in den Alpen."

    Die Zürcher Geographin ist an diesen Untersuchungen beteiligt. Im Hitzesommer 2003, der auch den Alpen Rekordtemperaturen bescherte, lieferten die Messgeräte ein erstaunliches Ergebnis. An seiner Oberfläche taute der Fels am Schilthorn-Gipfel viel stärker, als man jemals zuvor beobachtet hatte. Nötzli:

    "Die Jahre vor 2003, die waren um die viereinhalb Meter. Und das war fast neun Meter dann im Sommer 2003."

    Dass Fels und Eis in der warmen Jahreszeit an exponierten Stellen oberflächlich auftauen, ist völlig normal:

    "Eine Schwankung der Temperatur an der Oberfläche dringt mittels Wärmeleitung in den Boden ein."

    Doch für gewöhnlich bleibt die Tiefenwirkung begrenzt. Nötzli:

    "Man kann sich das ein bisschen vorstellen mit einem Brot, das man auftaut. Das kennen die meisten. Man nimmt ein Brot aus dem Gefrierschrank und stellt es an die Luft, um es aufzutauen. Und wartet. Und dann hat man so lange gewartet und schneidet rein. Und es ist immer noch gefroren drin. Das ist eigentlich das gleiche Prinzip. Es dauert sehr lange, bis eine Änderung an der Oberfläche dann wirklich im Inneren ankommt."

    Im Hitzesommer 2003 aber zeigte sich, wie sehr sich die Verhältnisse bei extremer Witterung ändern können. Die Dicke der so genannten Auftauschicht verdoppelte sich glatt, binnen kurzer Zeit wurden mehrere Meter Permafrost auf dem Schilthorn-Gipfel vernichtet. Man kann das durchaus so ausdrücken. Denn Fels, der nicht mehr das ganze Jahr über gefroren bleibt, ist kein Permafrost mehr, wie Jeannette Nötzli sagt. Schlimmer noch: Er verliert seinen Zusammenhalt:

    "Man hat sehr viele Felsstürze beobachtet im Hochgebirge im Sommer 2003. Es gab fast keine Niederschläge in diesem Sommer, also es waren nur höhere Temperaturen als normal. Darum gehen wir davon aus, dass die Felsstürze im Zusammenhang mit diesen extremen Temperaturen stehen und eben nicht mit zusätzlichem Niederschlag. Die Temperatur, die in den Berg hinein ist, dort tiefere Schichten getaut hat als bis anhin, und damit viele Felsstürze ausgelöst wurden."

    Zurück zur Zugspitze. Diesmal nicht in, sondern auf den Gipfel. Nach Stunden im Stollen sieht Michael Krautblatter wieder Tageslicht. Begleitet wird er von Mathias Sprenger, einem Studenten der Fachhochschule Aachen und versierten Bergsteiger. Die beiden tragen jetzt Steigeisen unter den Schuhen, Sprenger zudem eine Bohrmaschine über der Schulter. Ihre Kollegin Sarah Verleysdonk lassen sie am Stollenausgang zurück. Ringsherum blendender Schnee. Verleysdonk:

    "Die befinden sich gerade quasi an der Felswand selbst, direkt an der Steilwand, im ungesicherten Teil, und versuchen, im Fels Instrumente zu installieren, die da angebohrt werden und die zu einem System gehören, das Messdaten liefern soll von den Außentemperaturen zum Beispiel."

    Michael Krautblatter muss jeden seiner Schritte genau abwägen, ab und an bricht Gestein aus der Felswand, und der Bonner Forscher hält inne, noch auf Rufweite zum Stollenausgang. Krautblatter:

    "Jeden Stein, den man anfasst, zieht man aus der Wand. Also, in so einem maroden Material bin ich selber noch nie geklettert."

    Am Ende klappt aber alles. Die Lichtleiter-Kabel sind verlegt, die Messsensoren außen am Zugspitz-Gipfel fixiert.

    "Feierabend?"

    "Feierabend!"

    "Müssen wir runter, nicht?"

    "Ja. Ich würd’ sagen, wir packen alles zusammen jetzt. Dann schnell runter und zur Seilbahn."

    Wenn der Permafrost taut, dann ist das nicht nur eine Gefahr für Leib und Leben, weil Gesteinsmassen zu Tal stürzen können. Sondern auch für die Infrastruktur oberhalb der Baumgrenze: für Schutzhütten, Seilbahn-Stationen, Berg-Restaurants und Lawinenfänge. Die Geographin Marcia Philips vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos in der Schweiz:

    "Wenn wir Eis im Boden haben im Permafrost, dann kann dieses Eis entweder wachsen oder abnehmen, also schmelzen. Und das kann zu Volumenänderungen im Boden und einer Reduzierung der Tragfähigkeit des Bodens und zum Beispiel zu Senkungen führen, die problematisch sind für Stabilität von Gebäuden oder Infrastruktur."

    Philips kennt viele Fälle in den Alpen aus eigener Anschauung. Jedesmal musste notgedrungen nachgebessert werden:

    "Es gab in den letzten Jahren mehrfach Probleme im Hochgebirge, wo man Sanierungsmaßnahmen durchführen musste. Und es gibt sehr bekannte Beispiele. Die Gipfelstation vom Gemsstock wurde stabilisiert durch Injektion von Beton. Dann gab es auch in Österreich ein bekanntes Beispiel. Am Sonnblick hat man das Observatorium und die Gebäude auf dem Gipfel saniert und die Fundamente verstärkt. Ja, es gibt also sehr viele solche Beispiele."

    Richtlinien für das Bauen im Permafrost existierten bisher nicht, sagt die Schweizer Forscherin. Deshalb laufe nun ein neues Projekt an ihrem Institut. Erstmals sollen Bauempfehlungen für das Hochgebirge erarbeitet werden:

    "Da sind sehr viele zum Beispiel Ingenieure und Geologen, die sehr viel über Permafrost wissen. Aber es gibt auch einige, denen es nicht bewusst ist, dass das langfristig oder auch sogar kurzfristig ein Problem sein kann."

    Philips und ihre Kollegen erstellen nun so etwas wie eine Liste vorbildlicher technischer Lösungen, die bereits verwirklicht worden sind:

    "Ich hab’ ein sehr schönes Beispiel gesehen im Skigebiet von Ischgl in Österreich. Da ist ein großes Restaurant auf einer Drei-Punkt-Lagerung gebaut im Permafrost. Und man kann sich vorstellen: Wenn das Gebäude langsam in den Boden einsinkt wegen Schmelzens von Permafrost, kann man eines oder alle von diesen drei Punkten hochschieben mit hydraulischen Pumpen. Und dann kann man Eisenplatten drunterschieben, um diesen Unterschied zu kompensieren. Die haben auch zum Beispiel geschaut, dass sie keine wärmeerzeugenden Geräte im Keller stehen haben, damit keine Wärme in den Boden hineinkommt und damit der Boden länger stabil bleibt."

    Den Wärmefluss in den Untergrund zu blockieren – diese Empfehlung gilt schon für die Bauphase:

    "Bei einer Sesselbahn-Mittelstation hat man, um zu verhindern, dass die Abbindewärme vom Beton – wenn Beton hart wird, kommt sehr viel Wärme zuerst ’mal raus durch chemische Reaktionen -, und um zu verhindern, dass diese Wärme in den Boden hineingetragen wird, wurde unter dieser Betonschicht / eine Schicht Isolationsmateial eingelegt. Und das hat sehr gut funktioniert."

    Nach Marcia Philips’ Kenntnis sind noch viele neue Seilbahnen, Hotels und Hütten in den Hochalpen geplant:

    "Wir empfehlen, dass man rechtzeitig - ein bis zwei Jahre vorher – anfängt, den Boden zu untersuchen, die geotechnischen Eigenschaften, bevor man anfängt zu bauen. Um Überraschungen zu verhindern."

    Sarah Verleysdonk:

    "Auch hier noch die Tür zu."

    "So, haben wir noch ein bisschen mehr Zugluft abgehalten."

    Für Sarah Verleysdonk und Michael Krautblatter ist die Tagesarbeit im Gipfelstollen der Zugspitze getan. Im Stechschritt geht es zurück ins Schneefernerhaus. Die Gondel ins Tal wartet nicht.

    "So, das war’s!"

    Auch die Bonner Geoforscher wollen Überraschungen vermeiden. Gerade weil der Zustand des Permafrostes am Gipfel der Zugspitze so kritisch ist, soll er in Zukunft überwacht werden. Im Schneefernerhaus hat Michael Krautblatter nach dem eiligen Abstieg wieder genügend Luft – und Zeit für Erläuterungen:

    "Also, es ist von uns aus angedacht, die Felswand an der Zugspitze mit Laser-Scanning abzutasten jährlich. Und zu vergleichen eben: Wo legt sich die Wand wie schnell zurück, und wie groß sind die Felsstürze, die rauskommen? Die sind aber zur Zeit eher im - so weit wir das beobachten - kleinen Bereich. Also, es gibt keine Anzeichen für ein ganz großes Ereignis."

    In der Vergangenheit dagegen war es schon einmal dazu gekommen. Vor rund 3700 Jahren. Damals stürzten vermutlich 400 Millionen Kubikmeter Fels vom Zugspitz-Gipfel in die Tiefe. Die Trümmermassen bedeckten eine Fläche von 16 Quadratkilometern. Zu dieser Zeit neigte sich eine Wärmephase ihrem Ende zu, das so genannte holozäne Klimaoptimum. Parallelen zu heute erscheinen deshalb nicht ganz abwegig. Es könnte sein, dass der Permafrost damals auftaute und so Bergstürze auch in anderen Massiven der Nordalpen auslöste. Krautblatter:

    "Ein Bergsturz wie dieser große Eibsee-Bergsturz, der bewegt sich sozusagen schon fast wie eine flüssige Masse. Und das macht ihn auch so gefährlich. In den Auen und Wiesen, die es dort gibt, hat er sozusagen wie eine Lawine sich fortbewegt und ist bis zur Stadtgrenze von Garmisch geflossen."

    Man mag sich kaum ausmalen, welche Folgen eine solche Gesteinslawine heute hätte. Michael Krautblatter hält das Risiko zwar bis auf weiteres für gering. Doch ausgeschlossen ist ein Megasturz auf Dauer sicher nicht. Und das gilt nicht nur für die Zugspitze, sondern für viele andere Alpen-Gipfel im auftaugefährdeten Permafrost. Die Arbeitsgruppe von Wilfried Haeberli in Zürich steckt einen großen Teil ihres Know-hows deshalb heute in die Risikovorsorge. Haeberli:

    "Weil wir nicht überall alle Berge anschauen können, tendieren wir dazu, in unserer Forschung Modelle zu entwickeln, die zeigen, wo die besonders heiklen Situationen sind. Es gehört eine Sturz-Modellierung dazu, um zu wissen, wo das hingeht und was im Weg steht. Unser besonderes Augenmerk ist natürlich auf der Infrastruktur, Verkehrslinien, oder zum Beispiel Stauseen. Also, ein großer Sturz in einen natürlichen oder künstlichen See hinein könnte tatsächlich verheerende Folgen haben."

    Die Felsmassen würden in einem solchen Fall eine Flutwelle auslösen. Weil auch die großen Eisgletscher im Zuge des Klimawandels abschmelzen, nimmt die Zahl der Gebirgsseen in den Alpen sogar noch zu. Haeberli:

    "Wir sind daran, ein Modell anzuwenden, das genau vorhersagt, wo diese Seen entstehen. Zum Beispiel zur Zeit bildet sich auf dem Unteren Grindelwaldgletscher, ganz in der Nähe von Grindelwald, jedes Jahr ein See. Der wird immer größer. Der dürfte mehrere Millionen Kubikmeter groß werden mit der Zeit. Und dieser See befindet sich am Fuß von sehr steilen Flanken, mit Gletschern und Permafrost. Und eine der Gefahren ist sicher die, dass ein großer Sturz in den See hineinfällt. Da wird man darauf ausgehen müssen, diesen See möglichst zu entleeren."

    "Nächster Halt Eibsee. Dieser Zug fährt nach kurzem Aufenthalt weiter nach Grainau und Garmisch-Partenkirchen."

    Der Klimawandel zwingt die Alpenländer auf jeden Fall zu verstärkter Risikovorsorge, Deutschland und die Zugspitz-Region eingeschlossen. Der Permafrost reagiert zwar träge. Aber er wird nach und nach wegtauen. Haeberli:

    "Das ist etwas, was die meisten Leute vielleicht noch nicht ganz verstanden haben: Wenn wir global von einer Erwärmung von zwei Grad sprechen, dann heißt das auf den Kontinenten und im Gebirge: mindestens doppelt so viel. Und wärmere Berge sind auch weniger sichere Berge. Das ist ganz eindeutig so. Also, langfristig ist die Prognose für alle Hochgebirgsgipfel – nicht so günstig."

    "Dieser Zug endet hier. Bitte alle aussteigen."

    Hinweis: Den zweiten Teil von "Tauwetter über den Gipfeln der Welt" können Sie am Sonntag, 23.11., 16:30 Uhr, im Deutschlandfunk hören und hier nachlesen.