Dienstag, 23. April 2024


Teil 2: Erbarmungslos bis zum Letzten ...

Über die Nehrung strömten unbewaffnete und abgerissene Uniformen tragende deutsche Soldaten.

Von Peter Lange | 30.11.2004
    Katharina Hoesch erinnert sich an die letzten Tage im Januar 1945, als sich die Front ihrem Heimatort Rossitten an der Kurischen Nehrung in Ostpreußen nähert.

    Im Walde lagen weggeworfene Waffen und Munition. "Feiglinge", wurden diese Soldaten von meinem Vater beschimpft. "Der Krieg ist für uns aus", bekam er zur Antwort, "seit 1939 haben wir umsonst gekämpft. Unsere Familien, unsere Häuser sind im Bombenhagel untergegangen. Wofür sollen wir noch kämpfen?". Feldpolizei wurde in Rossitten stationiert. Sie versuchte, die Flüchtenden aufzuhalten.

    Der Krieg ist längst verloren. Viele Soldaten wissen das; manche versuchen, sich abzusetzen, wenn sie auf dem Rückzug in die Nähe ihrer Heimatorte kommen.

    Günter Brandenburg aus der Nähe von Schwedt weiß noch, dass in den letzten Januartagen in seinem Dorf SS-Kommandos aufgetaucht sind, auf der Suche nach Deserteuren. Er beobachtet während der Flucht über die Oder:

    An jedem Brückenbogen hingen strangulierte Soldaten und blutige Menschen in Arbeitsdienst-Uniformen. Ihre Köpfe waren seitwärts geneigt und die Gesichter blauschwarz. An Stricken baumelten ihre leblosen Körper im Wind.

    Andere kämpfen auf verlorenem Posten weiter und ziehen so die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft. Doris Richter, damals zehn Jahre alt, erinnert sich, wie Ende Januar ihr Heimatort Wolmen in die Frontlinie geraten ist.

    Soldaten hatten den Befehl, eine Verteidigungsstellung auf unserem kleinen Acker vor den Wiesen einzurichten. Sie stellten also ihr Gerät, darunter auch einen Schützenpanzer, auf unser Feld. Wir waren sehr besorgt deswegen, denn wenn es zu Kampfhandlungen gekommen wäre, hätte unser Hof sicher großen Schaden genommen oder wäre zerstört worden.

    Die Vertreter des Regimes, die Amtswalter der NSDAP, die Ortsgruppenleiter und Bürgermeister haben die Bevölkerung bis zum letzten Moment im Griff. So erinnert sich Ida Helene Ulm aus Reesewitz bei Breslau:

    Als Opa mit seinem Wagen losfahren wollte, kam der Bürgermeister und holte den 58jährigen Mann mit Drohungen vom Wagen. Er sagte, er müsse da bleiben und im Volkssturm gegen die Russen kämpfen. Dem Opa liefen die Tränen, als er allein zurückbleiben musste und nicht mitfahren durfte. Der Abschied von seiner kranken Frau und von seinem Gespann war erschütternd.
    Sie haben immer noch gesiegt, aber hinter der Hand haben sie gesagt: Es ist aus. Und sie waren auch die ersten, die dann verschwunden waren. Auf jeden Fall: Als wir loszogen, habe ich keinen mehr von der Partei gesehen. Alle Angst gehabt, alle Angst gehabt vor den Russen. Wir haben Angst vor den Russen.

    Lieselotte Klopp, damals 26 Jahre alt, aus Mährisch-Rotwasser - Andere erkennen den Ernst der Lage und lassen sich von den Repräsentanten des Nazi-Regimes nicht mehr einschüchtern. Wie etwa der Gutsbesitzer Otto von Linde aus Regenwalde in Pommern. Er notiert Wochen nach der geglückten Flucht:

    Wir hatten von der Partei keinen Treckbefehl. Wer treckt, wird erschossen, sagte der Ortsgruppenleiter Schlüter in Kiederhagen. Mir war das egal, denn ich sah als alter Soldat genau, was kommen würde.

    Ursula Pogoda, eine junge Lehrerin aus Nakel an der Netze hat das Verhalten des örtlichen NSDAP-Funktionärs wenige Tage vor Fluchtbeginn im Januar 1945 so in Erinnerung:

    Der Ortsgruppenleiter, ruhig zwischen vielen aufgeregten, fragenden Menschen, die alle wissen wollten, ob sie gehen dürften. Wir durften noch nicht raus, da dies Fahnenflucht hieß. Außerdem läge nicht der geringste Grund zu Besorgnissen vor. Der Russe nähere sich zwar mit Massen, aber auch wir rollten schon mächtig Nachschub nach vorn. Aus Danzig seien bereits 300 Volkssturmleute eingetroffen. Unbewaffnet allerdings, bei der SA besorgten sie sich acht Karabiner!

    Die Stadt wurde nun bevölkert von Soldaten und Männern zwischen 16 und 60 Jahren.

    erinnert sich Eva Günzl an die Situation im März 45 in ihrer Heimatstadt Stettin

    In den ehemals so gepflegten Grünanlagen übte der Volkssturm, und alle, die da mitmachen mussten, schimpften über den Blödsinn. Es gab nämlich keine Waffen für die Männer und keine Uniformen, sondern nur Armbinden.

    Gert Brauer, seinerzeit 14 Jahre alt, kommt im Januar 1945 mit der Bahn von einer Reise nach Kreuz in seinen Heimatort Woldenberg in Ostbrandenburg zurück. Seine Beobachtung damals:

    Da sah ich dann auf dem Rückweg, den ich zu Fuß angetreten habe vom Bahnhof Woldenberg zu unserem Hof, Speditionsfahrzeuge vor dem Parteihaus der NSDAP stehen. Das war am 24. Januar. Das war sicherlich ein Signal, dass Gefahr im Verzug ist.

    Und dann kam der 30. Januar. Der Bürgermeister ruft seine Leute nochmal in die Gaststätte und hat gesagt: Leute dann buddelt mal eure Fässer und Truhen wieder aus. In 14 Tagen tanzen wir hier wieder einen Rheinländer.

    Günther Schulz aus Pollenzig, östlich von Guben, seinerzeit zehn Jahre alt.

    Dann kam ein deutscher Offizier und hat dann nur noch gesagt, dass Polenzig beziehungsweise die Oder zur Hauptkampflinie erklärt wurden. Kaum eine halbe Stunde später, da fährt der Ortsbauernführer mit seinem Pferd und Wagen schon fort über die Oder, obwohl sie vor einer Stunde gesagt hatten: Wir bleiben alle hier.

    Irmgard Baumgarten aus Braunsberg in Ostpreußen erinnert sich an die abendlichen Lautsprecher-Durchsagen des NSDAP-Kreisleiters.

    Der Kreisleiter versicherte: Volksgenossen und Volksgenossinnen! Die militärische Lage ist nicht so, dass Grund zur Aufregung besteht. Bewahrt weiterhin Ruhe - hört nicht auf wilde Gerüchte! Er schloss seine Sendungen immer mit "Heil Hitler!" Eines Abends sagte er ganz einfach: "Gute Nacht!". Da wussten wir, was die Glocke geschlagen hatte.

    Marie Schlottke aus Schöneberg an der Weichsel registriert um den 19. Januar den nahenden Geschützdonner.

    Als besonders lächerlich kam mir vor, dass von Danzig her noch ein Parteiredner geschickt wurde, der von Tiegenhof mit Pferden abgeholt werden sollte, der vereisten Straßen wegen, und der eine Versammlung abhalten sollte, sozusagen als Vorfeier für Hitlers Geburtstag.