Donnerstag, 25. April 2024


Teil 3: Der Treck

Alles fertigmachen zum Flüchten. Also war's soweit. Da mussten wir denn aufladen. Aber was konnte man mitnehmen? Den Wagen, den ich lenken wollte, auf dem betteten wir über Koffer, Kisten und Säcke auf Matratzen und Betten meine kranke 78-jährige Schwiegermutter.

Von Dietrich Möller | 01.12.2004
    So erinnert sich Gerda Hoffmann aus Labiau in Ostpreußen an den Beginn ihrer Flucht vor der anrückenden Roten Armee. Sie hat zwei Pferdewagen für sich und ihre vier Kinder, die Schwiegereltern, ihre Schwägerin Else mit deren vier Kindern und die Schwägerin Hedwig, dazu die junge Mutter Alma und deren Töchterchen Agnes. Ein Treck, wie er typisch ist, wie es unzählige gibt. Oder der, mit dem Hildegard Jagodzinski unterwegs ist:

    Wir hatten leider nur ein älteres Pferd zur Verfügung. Mit uns treckten noch 13 weitere Personen, Freunde und Nachbarn aus Angerlinde, in einem großen Planwagen mit zwei starken Pferden davor. Es herrschte strenger Frost und es hatte wieder zu schneien begonnen. Zwar hatte meine Mutter dem Pferd scharfe Stollen in die Hufeisen gedreht, aber trotzdem glitt das arme Tier auf der schnee- und eisglatten Straße immer aus. Meine Mutter lenkte den Wagen, indem sie im tiefen Schnee neben dem Pferd einher stapfte. Ich ging hinter dem Wagen, und an Steigungen halfen Freunde beim Anschieben. Die Wagen waren für die katastrophalen Straßenverhältnisse viel zu schwer beladen.

    Seltener ist schon der, den Margarete Erlenbach führt:

    Ich saß im ersten Gummiwagen, nach uns kam der Futterwagen, dann das Coupe mit meinen kranken Eltern, gezogen von den Kutschpferden. An das Gefährt meiner Eltern schloß sich ein Wagen mit Habseligkeiten, und den Beschluß machte der Treckerfahrer mit zwei Gummiwagen.

    Aber Frauen sind es fast immer, die die Verantwortung tragen. Wie auch Gerda Hoffmann, die heute 92-jährige:

    Ich glaube, sieben Tage waren wir unterwegs. Die Leute waren eigentlich alle kopflos, es gab gar keine Organisation, also Sammellager oder dass man irgendwo bleiben konnte.

    Man muss dabei bedenken, es war eine kalte Jahreszeit, wir hatten etwa 20 bis minus 25 Grad, die Straßen waren verschneit, teilweise verweht, und wir mussten uns nun einreihen in die Schlange der Trecks, die unterwegs waren und konnten so am Tage 20 bis 25 Kilometer zurücklegen. Schwierig war es, wenn die Pferde auf dem Glatteis ins Rutschen kamen und die Wagen hin und her schleuderten und es dann zu Stockungen kam, zu Staus, so daß die Trecks, die nach uns kamen, unruhig wurden.

    Gert Brauer, damals 14 Jahre alt. - Die Auflösung staatlicher Ordnung, das eisige und schneereiche Winterwetter, die von Trecks verstopften Straßen und die näherrückende Front - es sind chaotische Verhältnisse. Sigried Franzen:

    Einmal sah ich, wie ein kleiner PKW in voller Fahrt ins Rutschen geriet, einen Wagen anfuhr und mit den durchgehenden Pferden die Böschung hinabstürzte und sie unter sich begrub. Es war ein schrecklicher Anblick, und wie viele solcher Unglücksfälle sollte ich noch erleben.

    Wir sind manchmal einen halben Tag gestanden auf der Straße. Immer runter und dann die Pferde bedeckt, weil die Pferde das doch nicht vertrugen: so lange erst mal stark gefahren und dann nachher stehen. Das konnten sie auch nicht.

    Nun lagen auch schon Tote am Straßenrand, ältere Menschen und Säuglinge. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Und das Elend wurde größer. Pferde brachen immer häufiger zusammen, Säuglinge starben und wurden auf Planwagen geboren. Wir hörten ständig verzweifeltes Weinen. Und immer wieder diese eisige Kälte.

    Brigitte Kramer ist mit Mutter und Schwester unterwegs. - Der damals zehnjährige Manfred Bölk erinnert sich an diese Szene:

    Hinter dem Wagen war eine Kuh angebunden, die nun auf der Straße lag. Nun mühten sich die Bauersfrau und eine Oma um das Tier - ihre Milchquelle für die zwei kleinen Kinder auf dem Wagen. Es war vergeblich, die Kuh stand nicht auf. Da setzte sich die Frau vor der Kuh in den Schnee, umarmte deren Kopf und bat unter Tränen, doch wieder aufzustehen. Es war schrecklich. Das Tier konnte nicht mehr. Da klopfte die Frau ihr stumm den Hals, nahm ihr das Halfter ab und stieg wieder auf den Wagen. Die Kuh blieb erschöpft zurück.

    Und immer näher rückt die Front, die Rote Armee ist vielerorts schneller als die Trecks. So hat es Emma Blechert erlebt:

    Alles ging von der Kälte kaputt. Wir waren schon 14 Tage unterwegs. Tagsüber konnte man nicht fahren, weil die Tiefflieger alles beschossen. Überall lagen die zerfetzten Wagen und Tiere herum. Man konnte nur nachts vorwärts kommen.

    Die Straße ist von zurückziehendem Militär verstopft, also weiter nach Norden. Wir laufen, laufen.

    Die Lehrerin Ursula Pogoda. Die Flucht führt sie aus Westpreußen über Stargard und Stettin nach Hamburg.

    Fällt man hin, steht man eben wieder auf und geht weiter. Es ist eiskalt. Die Haare sind fast fingerdick voll Reif. Werden die Glieder erfrieren? Der Schlitten kippt. Schnell wieder aufladen. Ich muss in gebückter Haltung gehen, die Koffer festhalten. Oft sind die nachfolgenden Wagen so nahe, dass ich den Atem der Pferde spüre. Wie oft sind Wagen vor uns abgerutscht, stehen quer. Militär fährt vorüber, aber hilft nicht. Sie rufen nur: "Beeilt euch! Sie kommen!"

    Auch Käthe Lorenzen verlässt 1944 Stargard.

    Das nächste Dorf, das wir nun ansteuern mussten, um die Autobahn nach Stettin zu erreichen, zeigte sich zu unserem Entsetzen als Flammenmeer. Es schien unmöglich, es zu durchqueren. Aber wir hatten keine Wahl. Die Pferde gingen wie von einer unsichtbaren Macht getrieben durch das Inferno. Sie scheuten nicht ein einziges Mal. Wir hasteten hinterher, unbeschadet. Ein Lob unseren Pferden, sie haben Unglaubliches geleistet.