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Teil 4: Keine Lust auf Deutschland?

An deutschen Hochschulen studieren etwa 15.000 türkische Studierende und 12.000 türkischstämmige Deutsche. Viele können sich nach dem Studium entscheiden, ob sie einen Arbeitsplatz in Deutschland oder in der Türkei annehmen wollen. Qualifizierte Fachkräfte werden in beiden Ländern gesucht.

Von Reiner Scholz | 01.11.2008
    Zu wenig Unterstützung durch Gesellschaft und Elternhaus? An einem Tisch in der Mensa der Leibniz-Universität in Hannover sitzen einige junge Deutsch-Türken, die es dennoch geschafft haben: das Abitur. Ihnen macht das Studium Spaß, die Hochschule ist einfach international:

    "Ja, die Mensa ist der Erholungsplatz von der Bibliothek, ich habe auch das erste Staatsexamen geschrieben und bereite mich jetzt auf die mündliche Prüfung vor und da ist die Mensa ein guter Platz, um sich zu erholen und ein bisschen abzuschalten. Wir lernen hier meistens an der Bibliothek und treffen uns dann zu Lernpausen mit anderen Kommilitonen, um uns dann mit neuen Kräften in die Bibliothek zu setzen und weiter zu lernen."

    An deutschen Hochschulen studieren etwa 15.000 türkische Studierende und 12.000 türkischstämmige Deutsche. Der 25jährige Ender Aslangecinar, geboren und aufgewachsen in Lehrte bei Hannover, gehört mit deutschem Pass zu letzteren Gruppe. Er will Wirtschaftsingenieur werden. Wo er sich später niederlassen wird, hat er noch nicht entschieden. Die Ergebnisse der Krefelder Studie, wonach fast 40 Prozent der türkischstämmigen Studierenden einen späteren Wechsel in die Türkei in Betracht ziehen, wundern ihn nicht:

    "Ich persönlich kenne ziemlich viele, die dahin möchten - ich sage extra "möchten", weil es ja noch soweit in der Zukunft ist, ob es in ein, zwei oder drei Jahren ist, es ist immer noch in der Zukunft und man weiß nie richtig, was für Angebote man hier oder in anderen Ländern bekommen könnte. Und außerdem: Ich studiere Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Bei einer globalen Welt ist es ja so, dass sehr viele, ob Migrationshintergrund, Türkische oder auch Deutsche, auch gern ins Ausland gehen würden."

    Ihm würden nach seinem Studium alle Türen offen stehen, ist der angehende Wirtschaftsingenieur optimistisch. Er spreche relativ gut Türkisch, Deutsch sowie Englisch und könne auch nach Kanada oder in die USA auswandern:

    "Ich habe auch einen High-School-Abschluss in Amerika gemacht in einer Gastfamilie, wo ich mich eher dazu gehörig gefühlt hab als in diesem Land, teilweise. Zum Beispiel war ich letzten Wochenende hier in der Stadt, in Hannover, und mitten im Stadtzentrum kam mir ein junger weißer Deutscher entgegen, hat seine rechte Hand hoch gehoben und hat "Heil Hitler" geschrieen, da frage ich mich wirklich, ob man sich dann hier wirklich zuhause fühlt."
    Ender Aslangecinar kommt aus einer Akademikerfamilie, seine Schwester und sein Bruder studieren noch, sein Vater ist Lehrer. Erhan Sengül dagegen, sein Freund, ein Politikstudent, der sich als "gebürtiger Hannoveraner" vorstellt, kommt aus einer Arbeiterfamilie. Dort gab es neben dem Koran kaum ein anderes Buch. Erhan ist stolz darauf, in seiner Familie das Vorbild für den gesellschaftlichen Aufstieg zu sein. Mittlerweile hat auch Erhans jüngerer Bruder das Abitur gemacht, seine Schwestern besuchen noch das Gymnasium:

    "Ich hatte besonders den Druck gehabt, dass ich auf jeden Fall mein Abitur schaffen müsste und ich auch eine Universität besuchen müsste, weil ich die Vorbildfunktion für meine jüngeren Geschwister einnehmen sollte. Und deswegen war das nicht einfach, mit dem Druck umzugehen. Ich bin aber auch froh, das Abitur geschafft zu haben, weil der Akademikergrad in der Familie quasi Null gewesen ist."

    Erhan Sengül, der nicht unbedingt in die Türkei gehen will, wohl aber Unternehmensberater für türkische Firmen werden möchte, ist der erste Abiturient in seiner Familie. Das gilt auch für Nesrin Odabasi, die angehende Juristin. Zuerst kam der Vater zum Arbeiten nach Deutschland, 1976 zog die Mutter, eine Analphabetin, mit fünf Kindern nach. Bildung wurde groß geschrieben und Nesrin Odabasi ahnte früh, dass dies die Eintrittskarte in die neue Gesellschaft sein könnte:

    "Es war nicht zwingend notwendig, dass ich hätte studieren müssen. Mein Vater hat mich, da war ich 16, irgendwann mal ein bisschen ärgern wollen und hatte gesagt, mein Mädel, du bist so fleißig und tust soviel für die Schule, was willst du denn werden, willst du mal eine Anwältin werden, weil er diesen Beruf sehr in der Ferne gesehen hat und es vielleicht mir gar nicht zugetraut hat. Ich weiß es nicht genau. Zumindest habe ich mir in dem Augenblick fest vorgenommen, ja, ich möchte Rechtsanwältin werden, ja, ich möchte Jura studieren und das habe ich tatsächlich auch umgesetzt."

    Die Jura-Studentin bringt sich ein in die deutsche Gesellschaft. Sie ist seit langem aktiv im Verband türkisch-deutscher Studenten, engagiert sich unter anderem im niedersächsischen Ausländerbeirat, aber auch im Bundesausländerbeirat, wo sie eine der stellvertretenden Vorsitzenden ist. Sie würde am liebsten in die Politik gehen:

    "Ich möchte in die Politik. Ich weiß aber, dass ich mit Migrationshintergrund bei einigen Parteien einen großen Vorteil mitbringe, bei einigen Parteien ist es nicht unbedingt ein großer Vorteil. Und es gibt Situationen, da werde ich sogar bevorzugt, dass will ich auch ehrlich zugeben, aber insgesamt würde ich sagen, ich habe noch nicht das Gefühl, dass ich wirklich da von den anderen angenommen werde, wie ich es mir wünschen würde."

    In den Gesprächen mit türkischstämmigen Studierenden zeigt sich bei vielen diese Ambivalenz. Natürlich sei man in Deutschland zuhause und sei es - nach gut 27 Jahren in diesem Land - auch wieder nicht. So sagt es der angehende Jurist Belit Onay. Er kennt den Wunsch vieler, Deutschland nach dem Examen zu verlassen, um sich im Boomland Türkei eine Existenz aufzubauen:

    "Bei vielen realisiert es sich nicht, aber allein schon, dass man darüber nachdenkt und der Anstoß zu dieser Idee, zu diesem Vorhaben ist einfach, dass man in Deutschland immer die Angst hat oder das Gefühl mitschwingt, dass man hier nicht das bekommt, was man verdient. Ich rede nicht von Geld, sondern einfach von der Anerkennung und der Position, die man vielleicht einnehmen könnte, also dass ein deutscher Kommilitone, der dieselben Noten hat, für eine Stelle dann den Vorzug erhält, gegenüber einem, der Migrant ist."