Donnerstag, 25. April 2024


Teil 9: Mit den Augen der Kinder.

Kurz vor Weihnachten 1944 erzählten sich die Leute immer nur vom Flüchten. Das die Russen alle Tage mehr Land eroberten, daß die Soldaten vorne an der Front keine Munition mehr hatten, bei der Kälte erfroren und zuletzt auch keine Lebensmittel mehr heran bekamen. Da wurden die Menschen unruhig.

Von Ingo Kirschbaum | 07.12.2004
    Ingrid Ziegenhagen, zum Zeitpunkt der Flucht ein elfjähriges Mädchen, schreibt 1948 ihre Erlebnisse in einem Schulaufsatz nieder

    Ich habe nur gemerkt, da ist irgendwas, dass die Wagen, die großen Pferdewagen, das waren so Kastenwagen zum Teil oder Leiterwagen, dass sie alle mit Plauen überdeckt wurden, und das da wahrscheinlich schon reingeräumt wurde. Von Packen habe ich nichts mitgekriegt. Ich glaube, wir Kinder wurden von allem weg gehalten.

    Gisela Giese, flüchtet mit ihrer Familie im März 1945, an ihrem 13. Geburtstag, aus dem oberschlesischen Leobschütz. - Im Februar 45 bricht Edelgard Oelke aus Pommern auf, für sie als Fünfjährige - so hat sie es in Erinnerung - ein aufregendes Abenteuer.

    Neben meinem Opa zu sitzen und mit Pferd und Wagen los zu fahren, war interessant. Den Ernst der Situation begriff ich erst allmählich und viel später, z.B. bei einem Luftangriff flüchteten wir uns eines Tages in eine Scheune, wo wir auch übernachteten. Da sagte ich zu meiner Mutter: "Lass uns doch wieder nach Hause fahren, dort habe ich so ein schönes Bett." Meine Mutter weinte nur und hielt mich fest an sich gepresst mit dem Gedanken, wenn eine Bombe einschlägt, würden wir beide zusammen tödlich getroffen werden.

    Am 19. Januar forderte die Internatsleitung jene Schülerinnen auf, nach Hause zu fahren, die meinten, ihre Eltern noch erreichen zu können.

    Evi Marie Bidder, neun Jahre, besucht ein Mädcheninternat bei Posen. Mit fremder Hilfe gelangt sie gerade noch nach Bromberg in Westpreußen, wohin die Eltern als "Umsiedler" aus dem Baltikum gekommen waren.

    Mutter erwartete uns in großer Aufregung in Bromberg. Sie war allein mit den beiden kleinen Kindern, nur ein 15-jähriges polnisches Mädchen als Hilfe. Auf der Ortsgruppe wurden die Eltern beruhigt und vertröstet: Es bestände keinerlei Gefahr! Aber in der gleichen Nacht um 1 Uhr wurden wir geweckt: Abtransport für Frauen und Kinder um 7 Uhr morgens mit der Kleinbahn. Es war Sonntag, der 21. Januar.

    An diesem 21. Januar 45 flüchtet auch Ingrid mit Merz ihren Angehörigen per Zug aus Breslau. Die damals Neunjährige erinnert sich:

    Jeder drängelte sich in irgend so ´nen Waggon, ob´s jetzt Gepäckwagen war, oder was es war. Hauptsache, man fand da noch ´n Platz, und das war total überfüllt alles. Mit so vielen Kindern kann man nicht so drängeln. Und mit dem Kinderwagen. So dass wir eigentlich froh waren, noch irgendwo einen Platz zu finden und in einer Ecke auf dem Boden saßen in diesem kalten Zug. Es hatte minus 20 Grad damals, es war bitter, bitter kalt.

    Acht Jahre ist Edith Beer, als sie mit der Mutter und kleineren Geschwistern zu Fuß mit nur einem Kinderwagen aus Niederschlesien auf die Flucht geht.

    Mutter verstaute alles mögliche an warmen Sachen in den Kinderwagen, denn bei minus zwanzig Grad Kälte haben Kleinkinder fast keine Überlebenschance.
    Windeln konnten nur am Abend gewechselt werden, wenn sich Menschen bereit erklärten, Heimatlosen Einlass zu gewähren. Es war eine schlimme auferlegte Strapaze, zu Fuß und mit einem Kinderwagen auf den vereisten Straßen unterwegs zu sein. Es fehlte an Nahrung aller Art, und vor allem an Babykost.


    Die Ernährung der Kinder bedeutet die größte Not. Mehrfach wird auch die Schwester von Ingrid Merz vorgeschickt, um, wenn der Zug mit den Flüchtlingen steht, an der Lokomotive heißes Wasser für die Nahrungszubereitung zu holen.
    Und ich erinnere mich, einmal hat der Zug abgepfiffen, und sie ist fürchterlich verunglückt, hingefallen, weil sie so gerannt ist und doch diesen Zug noch kriegen wollte, und dann irgendwo eingestiegen ist, es war also immer fürchterlich aufregend Sie war ja auch erst dreizehn. Und ein Kind ganz vor zu schicken am Zug, um Wasser zu holen, das war ja auch für meine Mutter schlimm. Man hat immer Angst, pfeift er jetzt ab, ist sie noch da, oder kommt sie noch in den Zug?

    Zahlreiche Kinder gehen auf der Flucht verloren, wie Brigitte Kramer, die als 13-Jährige in den Menschenmassen auf der Frischen Nehrung ihre Eltern verliert.

    Ich sah sie nicht. Sie waren weg. Das konnte nicht sein! Sie konnten nicht weg sein. Meine Mutter würde nie ohne mich weggehen. Ich suchte und weinte und fragte die Menschen, die dort standen, aber keiner konnte mir helfen. Sie sagten, dass alle mit Lastwagen weggekommen wären. Wohin wüssten sie auch nicht. Sie sahen mich mitleidig und teilnahmslos zugleich an. Ich lief durch die Menschenmenge und rief weinend nach meiner Mutter.

    Dank glücklicher Umstände findet Brigitte Kramer ihre Mutter wieder. - Edeltraud Praschek erlebt mit 9 Jahren östlich von Stolp das sowjetische Militär hautnah.

    Ich erinnere mich, dass mich dort ein russischer Soldat auf den Schoß nahm, noch heute könnte ich den Geruch, den er verströmte, wieder erkennen: Eine Mischung von speckiger Uniform, ungewaschenem Körper, Wodka und Machorka. Er war nett zu uns Kindern, zeigte uns Fotos seiner Kinder, streute uns Zucker in die hohle Hand, aber ich zitterte vor Angst und Erschöpfung.

    Denn stand einer von denen auf und geht zum Kinderwagen. Nu isses so weit, jetzt wollen sie die Kleene umbringen.

    In einem Gehöft nahe dem ostbrandenburgischen Pollenzig hat die Familie von Günter Schulz Zuflucht befunden. Dort lassen sich die Sieger bewirten. An diese Szene mit den angegetrunkenen sowjetischen Soldaten erinnert sich der damals Elfjährige bis heute.
    Da hat er die Decke rausgenommen und hat sie auf den Stuhl gepackt, hat er die Kleene rausgenommen, da war sie acht Wochen alt, ein kleenes Ding, auf die Hand genommen, da haben sie sie alle weitergegeben, von Mann zu Mann, die haben Tränen in den Augen gehabt, die haben gedacht, vielleicht habe ich zuhause ja auch so einen kleinen Menschen, und so vorsichtig, wie sie sie rausgenommen haben, haben sie sie wieder reingepackt und haben dann noch eine Weile weitergesoffen, haben unserer Mutter diesmal nichts getan und sind verschwunden, waren weg.