Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Teilchen im Taumel

Physik. - Eigentlich sollten die Teilchenphysiker glücklich und zufrieden sein: Mit dem "Standardmodell” haben sie eine Theorie entwickelt, die die Welt der Elementarteilchen fast perfekt beschreibt. Dennoch sind die Experten unzufrieden: In ihren Augen ist das Standardmodell noch nicht der Weisheit letzter Schluss, es ist schlicht zu kompliziert. Deshalb sucht man seit Jahren nach Abweichungen vom Modell - Abweichungen, die auf eine bessere Theorie hindeuten. Nun wähnen sich Physiker vom Brookhaven National Laboratory nahe New York auf den Fersen einer solchen Abweichung.

Von Frank Grotelüschen | 31.08.2004
    Hier liefen schon in den 60er Jahren Experimente. Nun ja, und seitdem ist hier wohl nicht mehr groß renoviert worden.

    Der Arbeitsplatz von Ofer Rind hat seine besten Tage längst hinter sich: sperrmüllreife Büromöbel, veraltete Elektronik und Wände, die ewig keinen neuen Anstrich mehr gesehen haben. Doch immerhin: Wir stehen an historischer Stätte: Der AGS-Beschleuniger hat dem Forschungszentrum Brookhaven gleich drei Physiknobelpreise eingefahren. Und ginge es nach Ofer Rind, könnte gern noch ein vierter dazukommen. Und zwar mit einem Experiment, das in einem turnhallengroßen Gebäude steckt.

    Wir stehen hier über dem weltweit größten Magneten seiner Art. Er hat die Form eines Ringreifens, 14 Meter Durchmesser, 600 Tonnen schwer. Er basiert auf supraleitenden Spulen, die man, damit sie funktionieren, auf fünf Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt kühlen muss.

    Im Magnetinnern fahren künstlich erzeugte Elementarteilchen mit irrwitzigem Tempo Karussell. Myonen, so heißen die Winzlinge. Sie kommen aus dem AGS-Beschleuniger, jener anfangs erwähnten Nobelpreismaschine. Myonen sind so etwas wie die schweren Brüder von Elektronen. Sie verhalten sich wie winzige Magnetnadeln – oder wie der Physiker sagt: Sie besitzen ein magnetisches Moment. Auf ihrer Karussellfahrt durch den Magneten fangen die Myonen an zu taumeln wie Spielzeugkreisel. Dieses Taumeln messen die Physiker so genau wie es nur geht. Eine anspruchsvolle Sache, denn:

    Wir können die Myonen im Ring nicht beobachten. Wir müssen warten, bis sie zerfallen. Und zwar zerfallen sie zu Elektronen, und diese Elektronen fliegen aus dem Ring heraus, in Richtung Ringzentrum. Dort treffen sie auf diese blauen Kästen da. Das sind Detektoren. Sie fangen die Elektronen auf und messen ihre Ankunftszeit und Energie.

    Eben daraus lässt sich das magnetische Moment des Myons bestimmen – und das ist genau das, worauf Ofer Rind und seine Leute hinauswollen. Der Grund:

    Die Messung des magnetischen Moments ist eine der präzisesten Messungen, die wir in der Teilchenphysik machen können. Und weil sich dieser Wert auch theoretisch sehr genau berechnen lässt, können wir das Standardmodell extrem präzise überprüfen.

    1997 legten die Forscher los, 2001 war das Experiment beendet. Die anschließende Auswertung war überaus langwierig - weshalb das Ergebnis erst jetzt vorliegt. Rind:

    Verglichen mit der Theorie gibt es da möglicherweise eine Diskrepanz. Wie groß diese Diskrepanz ist, wissen wir noch nicht. Unsere Messungen sind solide, doch die Theorie ist noch zu ungenau. Die Theoretiker arbeiten unter Hochdruck. Und nicht wenige spekulieren, dass sich hinter der Diskrepanz neue, unbekannte Phänomene verbergen.

    So könnte es sein, dass es neben den drei bekannten Raumrichtungen noch weitere Dimensionen gibt. Nur sind sie zu viel klein, als dass wir sie wahrnehmen könnten. Die Myonen aber würden durch die Extradimensionen beeinflusst – was wir dann erstmals nachgewiesen hätten.


    Und wenn das so wäre, dann müsste das Standardmodell gründlich überarbeitet bzw. erweitert werden. Denn irgendwelche Extradimensionen sind darin nicht vorgesehen. Nun heißt es also abwarten für Rind und seine Leute. Denn erst wenn die Theoretiker ihre Hausaufgaben gemacht und ihre Berechnungen verbessert haben, lässt sich sagen, ob man in Brookhaven womöglich auf einen weiteren Physiknobelpreis hoffen darf