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Teilchenbeschleuniger LHC
Algorithmen gegen Alarm-Lawinen

Alles soll besser werden, wenn im März der zweite Lauf des Teilchenbeschleunigers Large Hadron Collider, kurz LHC, am CERN in Genf beginnt. Seit zwei Jahren ist der LHC außer Betrieb. Jetzt soll er mit doppelt so viel Energie laufen und auch die Steuerung wurde optimiert - mithilfe einer neuen Software

Von Piotr Heller | 05.02.2015
    Blick in den Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) am Kernforschungszentrum Cern.
    Blick in den Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) am Kernforschungszentrum CERN. (AFP)
    Der LHC am CERN ist eine komplizierte Maschine. Der 26 Kilometer lange Teilchenbeschleuniger muss auf weniger als zwei Grad über dem absoluten Nullpunkt gekühlt sein. Und sein Inneres ist so leergepumpt, dass der Gasdruck dort zehn Mal geringer ist als der auf dem Mond. Keine Frage, dass bei so einer Anlage die Grenzen zwischen Industrie und Wissenschaft verschwimmen.
    "Ich kann sagen, als ich das erste Mal im CERN war, haben die mir gesagt, das ist eigentlich eine Produktionsanlage, eine Fabrik! Und die produziert keine Autos, sondern in Anführungszeichen Erkenntnisse über Elementarteilchen", sagt Thomas Hahn.
    Er entwickelt bei der Firma Siemens Software, die die Steuerung dieser "Produktionsanlage" erleichtern soll. Die Software ist nötig, um der riesigen Datenmengen Herr zu werden, die der LHC produziert. Damit sind nicht die Daten aus den Experimenten gemeint, sondern die aus Millionen Sensoren für Temperatur oder Druck, die die Maschine überwachen. Sie liefern 100 Gigabyte an Messdaten - und das jeden Tag. Wenn etwas nicht stimmt, lösen die Sensoren Alarm aus, wie Manuel Gonzalez Berges erklärt. Er ist Ingenieur am CERN und arbeitet mit den Operatoren zusammen, die die Maschine steuern.
    "Wenn ein Alarm ausgelöst wird, bekommt der Operator im Kontrollraum einen Hinweis in rot: "Es wird zu warm", kann da stehen. Oder: "Der Druck ist zu hoch". Manche Alarme sind simpel. Für die haben wir genaue Prozeduren, sodass ein Operator weiß, was zu tun ist."
    Alarm-Lawine durch Stromausfall
    Der Grund für einen solchen Alarm kann zu hoher Druck sein. Hervorgerufen durch ein Leck, durch das Gas in den Vakuum-Bereich eintritt. Der Operator muss dann die entsprechende Stelle abschotten.
    "In anderen Fällen ist es nicht so, dass man nur einen Alarm bekommt. Man bekommt viele, denn das Problem sitzt irgendwo und löst eine ganze Alarm-Lawine aus, die aus Zehntausenden Einzelalarmen bestehen kann. Bei so etwas will man wissen, was zuerst passiert ist. Wir messen zwar die Zeit sehr genau. Doch die sagt uns nicht immer, was am Anfang stand."
    Ein Ereignis, das eine Alarm-Lawine auslöst, kann zum Beispiel ein Stromausfall sein. Schließlich hat das CERN ein Stromnetz, das dem einer kleinen Stadt entspricht. Die genaue Ursache zu finden, kostet die Ingenieure manchmal mehrere Wochen. Das könnte sich bald ändern, denn Siemens betreibt am CERN ein Computersystem, das gerade die Archive durchforstet, erläutert Thomas Hahn:
    "Die haben die Betriebszustände in Archiven abgelegt. Die wissen ja auch, was für Fehlverhalten in der Vergangenheit war, als die Anlage abgeschaltet werden musste oder nicht so lange lief wie erwartet."
    März: Pause am LHC beendet
    Diese Archive durchsucht das Programm nach Mustern. Es erkennt, welche Kombinationen aus Alarmen zu welchen Ereignissen führten. So kann es gewisse Regelmäßigkeiten herausfinden. Aber die Software lernt nicht nur aus den Archiven. Die Informatiker programmieren ihm auch von Hand Regeln ein. Die leiten sie aus den Erfahrungen und dem Wissen der Operatoren und Ingenieure ab. Und denen soll das Programm dann helfen, die Ursachen von Alarmen zu finden, Root-Core-Analysis nennt sich das. Los geht es im März, wenn die Pause am LHC beendet ist.
    "Um, wenn er wieder gestartet wird und man dann die Aktualdaten kriegt, dann entsprechend zu reagieren und unsere Algorithmik zu nutzen, um den Betreiber der Anlage zu unterstützen. Einerseits zur Root-Core-Analysis. Respektive auch entsprechende Vorhersagen zu machen oder Hinweise zu geben, wo etwas auftreten könnte", so Thomas Hahn.
    Diese Vorhersagen sollen den Operatoren eine Art Blick in die Zukunft geben: So können sie sehen, ob Messwerte aus Sensoren sich auf einen Bereich zubewegen, der einen Alarm auslösen kann. Damit würden sie brenzlige Situationen erkennen, bevor sie überhaupt eintreten.
    Als Industrieunternehmen denkt Siemens natürlich auch etwas weiter. In Zukunft könnte man das System für andere Anlagen nutzen, die mit Millionen von Sensoren überwacht werden: Förderbänder im Autobau oder Gasturbinen in Kraftwerken. Das alles sind für Thomas Hahn mögliche Anwendungen. Doch erst mal muss dieses Forschungssystem an der größten Maschine der Welt beweisen, was es kann.