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Teilchenquark und WWW

Physik. - 20 Mitgliedsstaaten, 2500 Angestellte und jährlich rund 7000 Gastwissenschaftler. Das sind die eindrucksvollen Zahlen des CERN, des europäischen Forschungslabors für Teilchenphysik in Genf. Es ist das weltweit größte Labor seiner Art; hier suchen Forscher nach den letzten Grundbausteinen der Materie. Mit riesigen Beschleunigern fahnden sie nach exotischen Elementarteilchen. Erfolglos sind die Teilchenjäger nicht: Sie haben Nobelpreise einkassiert und - quasi als Abfallprodukt - das World Wide Web erfunden.

Von Frank Grotelüschen | 21.02.2007
    Das Dörfchen Meyrin bei Genf im Jahre 1954. Bagger sind angerückt und fangen an, auf der grünen Wiese eine Baugrube auszuheben - die Fundamente für eines der größten Forschungszentren der Welt.

    "Erstens gab es eine Initiative von den Physikern in Europa damals, die eingesehen haben, dass nur wenn man die europäischen Kräfte bündelt, Europa konkurrenzfähig ist insbesondere mit den Vereinigten Staaten."

    Herwig Schopper, von 1981 bis 88 Generaldirektor des CERN.

    "Aber es gab eine zweite Initiative: Es wurde knapp nach dem Krieg das Institut für europäische Kultur gegründet, wo zum ersten Mal nach dem Krieg englische, französische und deutsche Politiker sich treffen konnten und überlegt haben: Was kann man tun, dass die Europäer wieder zusammenfinden zu friedlicher Zusammenarbeit? CERN wurde so die erste europäische Organisation - älter als alle anderen."

    Besonders die Deutschen sehen im CERN eine Chance - die Möglichkeit, das durch die Hitlerzeit ramponierte Ansehen aufzupolieren und sich wieder in die Völkergemeinschaft einzugliedern.

    "Es ging nur um Grundlagenforschung und die Frage: Wie ist die Materie aufgebaut? Was sind die Grundbausteine der Materie?"

    Um diese Fragen zu beantworten, bauen die Forscher kilometergroße Beschleuniger. Diese bringen winzige Teilchen wie Wasserstoffkerne nahezu auf Lichtgeschwindigkeit, auf knapp 300.000 Kilometer pro Sekunde. Die Kerne prallen wie Geschosse zusammen und zerplatzen in ihre Bruchstücke. Diese Bruchstücke durchforsten die Physiker nach neuen, unbekannten Materiebausteinen. Die erste Teilchenschleuder am CERN ist Ende 1959 fertig. Doch die erste wissenschaftliche Sensation lässt auf sich warten - bis 1983. Damals verkündet der Italiener Carlo Rubbia die Entdeckung eines neuen Elementarteilchens - Z-Teilchen genannt. Eine Entdeckung, die ihm ein Jahr später den Physiknobelpreis einbringt - der wohl größte Tag in der CERN-Historie. Doch viele denken beim Stichwort CERN gar nicht an subatomare Partikel, sondern an eine der wichtigsten Innovationen der Informationstechnologie: das World Wide Web. Es wurde am CERN erfunden, sagt Web-Pionier Robert Cailliau.

    " Ende der 80er Jahre wurde es zum Problem, dass viele Forscher ständig zwischen dem CERN und ihrer Heimatuniversität pendelten. Damals war es nicht ohne weiteres möglich, von einem Rechner etwa aus Deutschland auf einen Computer am CERN zuzugreifen. Um das zu vereinfachen, kam Tim Berners-Lee auf die Idee, jedem Dokument, egal auf welchem Rechner in der Welt es liegt, einen eigenen, unverwechselbaren Namen zu geben. Dadurch war sichergestellt, dass man dieses Dokument auch wirklich findet. Genau das war Tims eigentliche Erfindung. "

    Und die Zukunft? Sie liegt beim CERN im Untergrund, in 100 Metern Tiefe. Der Fahrstuhl fährt hinab, die Tür öffnet sich, und man steht in einer unterirdischen Halle von den Ausmaßen einer Kathedrale. Hier laufen die Vorarbeiten für den stärksten und mit drei Milliarden Euro teuersten Beschleuniger aller Zeiten. LHC, so heißt der Riese - Large Hadron Collider. Er ist eingebaut in einen 27 Kilometer langen Ringtunnel.

    Noch in diesem Jahr soll der LHC Wasserstoffkerne mit unerreichter Wucht aufeinander feuern. Gleich mehrere Riesendetektoren werden beobachten, ob sich dabei neue Teilchen bilden - etwa das Higgs-Teilchen, mit dessen Hilfe die Physiker erklären wollen, warum Materie überhaupt Masse besitzt. An den Experimenten am LHC machen mehr als 4000 Physiker aus aller Welt mit, auch viele Amerikaner - was zeigt, dass mittlerweile kein Teilchenforscher am CERN vorbei kommt. Für CERN-Veteran Hans Hoffmann jedenfalls ist der LHC ein Leuchtturmprojekt von überragender Bedeutung - und zwar nicht nur für die Teilchenforschung.

    "Mit diesem Projekt, wenn alles gut geht, sind wir an der Spitze. Ein schönes Gefühl, wenn man erster ist. Und ich glaube, Europa sollte sich das Gefühl auf viel mehr Gebieten gönnen. Denn die Qualität der Wissenschaft in Europa ist mit jedem anderen Kontinent mindestens vergleichbar, wahrscheinlich besser."

    Mehr über Wissenschaft in Europa finden Sie im Programmschwerpunkt Werkstatt Europa