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Teilhabegesetz
Behindertenverbände sprechen von Mogelpackung

Die Bundesregierung hält das vom Kabinett verabschiedete Teilhabegesetz für eine große sozialpolitische Reform. Die Behindertenverbände sind allerdings überhaupt nicht zufrieden. Sie werfen Bundessozialministerin Andrea Nahles vor, die Betroffenen nicht gefragt zu haben.

Von Stefan Maas | 28.06.2016
    Behinderte Aktivisten demonstrieren am Spreeufer gegen das Teilhabegesetz.
    Schon vor dem Kabinettsentscheid gab es Proteste gegen das Teilhabegesetz - wie hier Mitte Mai in Berlin. (picture alliance / dpa / Rainer Jensen)
    "Jetzt komme ich zu jemandem, der, für diejenigen, die ihn nicht sehen können, in Gefängniskleidung erschienen ist…"
    Der Mann ist einer rund 100 Demonstranten, die sich am Morgen vor dem Berliner Hauptbahnhof versammelt haben. Schilder mit der Aufschrift: behindert, nicht blöd. Oder: So sehen Verlierer aus – und auch der Käfig, in dem sich Rollstuhlfahrer und andere Menschen mit Behinderung drängen, soll Bundessozialministerin Andrea Nahles zeigen, was sie hier halten von ihrem Gesetzentwurf zum Teilhabegesetz.
    "Das ist eine Mogelpackung." "Wir Betroffenen sind nicht gefragt worden, was wir brauchen, uns wird einfach etwas übergestülpt."
    Dabei will die SPD-Politikerin mit dem Gesetz eigentlich erreichen, dass Menschen mit Behinderungen mehr Freiraum bekommen, ihr Leben nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten, erklärt Nahles nur wenige Meter von der Demo entfernt. Sie spricht von einem Systemwechsel.
    "Wir führen die Eingliederungshilfe aus dem alten Fürsorgesystem der Sozialhilfe heraus und stellen den Menschen in den Mittelpunkt."
    So soll zukünftig etwa ein Antrag reichen, um Leistungen verschiedener Träger zu bekommen. Menschen mit Behinderung sollen auch mehr Sparen dürfen als bisher. Der Freibetrag auf Barvermögen soll nächstes Jahr auf 27.600 Euro steigen, der für Erwerbseinkommen um bis zu 260 Euro monatlich erhöht werden. Ab 2020 soll der Freibetrag auf 50.000 Euro steigen. Verdienst und Einkommen des Partners sollen nicht mehr mit angerechnet werden. Mit einem Lohnkostenzuschuss von 75 Prozent für Arbeitgeber, die einen Menschen mit Behinderung einstellen, sollen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessert werden, denn noch immer kaufen sich viele Unternehmen mit einer Ausgleichzahlung frei.
    "Mit unserem Gesetz soll es niemandem schlechter gehen, aber den meisten besser", verspricht Nahles.
    Kein großer Wurf?
    Die Betroffenen aber sind skeptisch. Die Kritik an dem Entwurf ist laut und kommt von vielen Seiten. Die Opposition sieht anders als die Ministerin keinen großen Wurf, die Kommunen befürchten erhebliche Mehrkosten, auch wenn die Ministerin ihnen Entlastungen in Höhe von fünf Milliarden Euro zugesagt hat, Sozial- und Behindertenverbände befürchten eine Verschlechterung, weil der Kreis der Leistungsberechtigten eingeschränkt werden könnte, sogar die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung sieht Änderungsbedarf. So müsse unter anderem sichergestellt werden, dass auch künftig alle Menschen mit hohem Assistenzbedarf selbst entscheiden können, wo sie wohnen, sagt Verena Bentele.
    Und auch vor dem Berliner Hauptbahnhof haben die Demonstranten den Eindruck, das Negative wiegt schwerer als die Verbesserungen. Beim Thema Assistenz zum Beispiel. Dort kann sich die Ministerin vorstellen, Leistungen zu teilen, wenn möglich. Das wäre ein starker Eingriff in den Alltag, erklärt Raul Krauthausen.
    "Stellen Sie sich vor, Sie wohnen als Rollstuhlfahrer mit zwei anderen Rollstuhlfahrern in einer Wohnung, und Sie teilen sich dann plötzlich die Assistenz, dann ist es nicht mehr so einfach, zum Beispiel spontan ins Kino zu gehen, weil man sich ja mit den anderen abstimmen und koordinieren muss.
    Auch der höhere Freibetrag von 50.000 reiche nicht aus. "Das klingt erst einmal viel, bedeutet aber inklusive Altersvorsorge, Bausparvertrag und Lebensversicherung."
    Damit komme man nicht weit. Deshalb fürchtet der Aktivist, drohe vielen Armut im Alter.