Dienstag, 16. April 2024

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Teilmobilmachung in der Ukraine
"Erfreut sich einer gewissen Popularität"

An der ausgerufenen Teilmobilmachung der ukrainischen Armee gebe es im Land kaum Kritik, sagt der Leiter des Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew im Deutschlandfunk. Die Stimmung im Land sei so patriotisch, dass die Ukrainer der Einberufung folgen werden. Meuser äußerte aber Zweifel daran, ob die Männer kampferprobt genug sind.

Stephan Meuser im Gespräch mit Christiane Kaess | 21.01.2015
    Die Schatten von drei Soldaten im Krieg, die Waffen in den Händen halten.
    Die Ukraine hat weitere Männer zum Einsatz in der Ostukraine einberufen. (AFP / Anatoliy Boyko)
    Die Mobilmachung komme nicht überraschend, sagte Stephan Meuser im Deutschlandfunk. Sie sei zwischen Weihnachten und Neujahr schon angekündigt worden. Wegen der Verwaltungsabläufe und der Feiertage in der Ukraine sei es logisch, dass die Einberufung erst jetzt erfolge.
    Dass die Männer alle kampferprobt genug seien, bezweifelt Meuser. Die Einberufenen hätten zwar schon mal gekämpft, das sei aber länger her. Wer zehn Jahre lang keine Waffe in der Hand gehabt habe, sei wahrscheinlich nicht sofort voll einsatzbereit, so Meuser im Deutschlandfunk. Angesprochen auf Gerüchte, dass sich reiche Ukrainer vom Wehrdienst freikaufen könnten, sagte der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew, das halte er nicht für ausgeschlossen.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Im Kampf gegen prorussische Separatisten hat die Ukraine die Teilmobilmachung von zusätzlich bis zu 50.000 Mann eingeleitet. Russland kritisierte diese massive Verstärkung der Armee scharf. Es drohe eine weitere Eskalation in der Krisenregion. Die ist nun allerorten zu beobachten. Parallel dazu gehen die Bemühungen um eine diplomatische Lösung weiter. Bundesaußenminister Steinmeier hat seine Kollegen aus der Ukraine, Russland und Frankreich für heute Abend zu einem erneuten Krisentreffen nach Berlin eingeladen. Meine Kollegin Christiane Kaess sprach darüber gestern Abend mit Stephan Meuser. Er leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew.
    Christiane Kaess: Herr Meuser, wie kritisch wird denn bei der Bevölkerung in Kiew die Teilmobilmachung gesehen?
    Stephan Meuser: Anders als bei uns in Deutschland überhaupt nicht kritisch. Man sieht sich hier in einer Verteidigungsposition und diese Maßnahme - das muss man einfach konstatieren - erfreut sich einer gewissen Popularität in der Bevölkerung.
    Kaess: Wir haben von Korrespondenten in ihren Berichten gehört, da werden teilweise Leute zitiert, die sagen, wer genügend Geld hat kann sich loskaufen. Kann es tatsächlich solche Fälle geben?
    Meuser: Das halte ich nicht für ausgeschlossen. Das würde übrigens auch in guter beziehungsweise schlechter Sowjettradition stehen. Das war in der Sowjetunion schon nicht anders und das war auch im Russland der 90er- und 00er-Jahre nicht anders und es ist auch in der Ukraine bekannt.
    Kaess: Es heißt auch, das Parlament in Kiew will sich eventuell sogar mit diesem Vorschlag beschäftigen, dass es eine Möglichkeit geben könnte, sich offiziell freizukaufen und dieses Geld dann in den Staatshaushalt fließen könnte. Kann das eine Option sein?
    "Kampferprobtheit dürfte nicht gegeben sein"
    Eine zerstörte Brücke nahe des Flughafens Donezk am Sonntag (18.01.2015)
    Eine zerstörte Brücke nahe des Flughafens Donezk am Sonntag (18.01.2015) (imago stock&people / Itar-Tass)
    Meuser: Ja, das halte ich für denkbar. Das wäre dann praktisch die Legalisierung von etwas, was ohnehin bis jetzt unter der Hand schon teilweise stattfindet.
    Kaess: Jetzt sagt der ukrainische Verteidigungsminister, unsere Heimat braucht jetzt kampferprobte Patrioten. Sind das diese jungen Männer, die da jetzt rekrutiert werden?
    Meuser: An der Kampferprobtheit bestehen Zweifel. Das sind Menschen, die in früheren Jahren mal in der ukrainischen Armee gedient haben zum Teil. Und na ja, ich bin selbst in Deutschland - so alt bin ich schon - mal Wehrpflichtiger gewesen. Man kann natürlich bezweifeln, wenn man dann zehn Jahre beispielsweise keine Waffe mehr in der Hand hatte, dass jemand von jetzt auf gleich sofort kampffähig ist. Das dürfte nicht gegeben sein.
    Kaess: Aber auch daran gibt es keine Kritik in Kiew?
    Meuser: Nichts mir bekannt. Es ist so, dass Sie davon ausgehen müssen, dass es hier schon eine gewisse patriotische Stimmung gibt. Übrigens war diese Mobilmachung jetzt auch nichts, was gestern der Präsident sich mal eben überlegt hatte, sondern das ist bei uns in Deutschland etwas untergegangen in der Zeit zwischen den Jahren, zwischen Weihnachten und Neujahr schon angekündigt worden. Hier sind ja die orthodox-slawischen Feiertage etwas später und erst letzte Woche zu Ende gegangen und deswegen ist das sozusagen eine logische Abfolge, dass man dann jetzt diese Woche in sozusagen Verwaltungsabläufen beginnt, und das ist eben dann heute.
    Kaess: Jetzt sagen Beobachter, Kiew kann diesen Konflikt militärisch nicht gewinnen. Wie sieht die Regierung in Kiew das?
    Meuser: Das ist die große Frage. Ich persönlich denke genauso. Die russische Seite - das muss man ja wohl so hart formulieren - hat spätestens im August deutlich gemacht, dass sie nicht gewillt ist, eine Niederlage der Separatisten hinzunehmen, als erstmals auch auf Urlaub befindliche russische Truppeneinheiten dort in das Kampfgebiet eingedrungen sind, und man kann sich vorstellen, dass sich das jetzt nur gegenseitig hochschaukeln würde. Ob die ukrainische Regierung das jetzt als taktische Maßnahme sieht, um unter dem Vorwand, dass man jetzt weiter im Kampf im Osten des Landes bestehen muss, dringend nötige interne Reformen der Innen- und Rechtspolitik zu verschleppen, muss man schon sagen, ob das die Logik ist, oder ob sie wirklich daran glaubt, dass man den Kampf dort militärisch gewinnen kann, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber bei aller Lageanalyse militärischer Art, die ja hier auch gegeben sein müsste, sollte eigentlich klar sein, dass es eine militärische Lösung nicht geben wird.
    "Es wird keine militärische Lösung geben"
    Petro Poroschenko (r.) und Mitglieder seiner Regierung bei einer Trauerzeremonie in Kiew
    Petro Poroschenko (r.): "Wir geben keinen Fußbreit vom ukrainischen Boden her" (imago/Itar-Tass)
    Kaess: Es ist ja ziemlich unübersichtlich, wer im Osten der Ukraine gegen wen tatsächlich kämpft. Was ist Ihre Einschätzung? Ist das schon ein Bürgerkrieg, bei dem Ukrainer gegen Ukrainer kämpfen, oder sind das tatsächlich russische Soldaten gegen die ukrainische Armee?
    Meuser: Ich persönlich gehe von einem dreistufigen Verfahren aus, dass wir letztes Jahr im Frühjahr, als es losging, die Bezeichnung Bürgerkrieg gehabt haben könnten. Danach in einer zweiten Stufe, als die separatistische Seite sah, dass sie nicht weiter vordringen konnte und sich nicht genügend Leute der, sagen wir mal, Rebellion anschlossen gegen Kiew, gab es dann einige russische Spezialeinheiten, von deren Existenz ich durchaus überzeugt bin. Und wie gesagt: In einer dritten Stufe Ende des Sommers, im Spätsommer, als deutlich wurde, dass das ganze Projekt ein wenig in Schwierigkeiten gerät, seither kann man davon ausgehen, dass dort originär russische Truppenteile mitkämpfen. Deswegen bin ich der Meinung, wir hätten etwas gehabt wie einen Bürgerkrieg, aber inzwischen kann man die Bezeichnung nicht mehr verwenden. Das ist ein verdeckter Kampf zwischen russischen Einheiten und ukrainischen.
    Kaess: Wenn der ukrainische Regierungschef Jazenjuk sagt, dass zwei russische Bataillone die Grenze überquert hätten, jetzt zum Beispiel oder vor kurzem, hat er dafür Beweise?
    Meuser: Da sich die ukrainische Seite ja schon häufiger relativ weit aus dem Fenster gelehnt hat im letzten dreiviertel Jahr, wäre ich da vorsichtig. Aber der innere Kern der Botschaft, den kann man durchaus glauben. Wir wissen ja, dass aus der russischen Seite von Nichtregierungsorganisationen - die prominentesten sind die Soldatenmütter - Fälle öffentlich gemacht werden, wo ihre Söhne oder ihre Männer gezwungen wurden, Urlaub zu nehmen, den Dienst in der regulären Armee in Russland zu quittieren und dann rübergeschafft wurden über die Staatsgrenze, um dort in der Ukraine zu kämpfen.
    Klein: Stephan Meuser von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew. Mit ihm sprach meine Kollegin Christiane Kaess.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.