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Teilnehmende Distanzierungen

Wie ein Reporter berichtet der Ich-Erzähler in diesem Erstling aus der Geschichte eines Adels-Clans in der Nachkriegszeit. In dem stark autobiografischen Roman taucht die Atmosphäre einer versunkenen Zeit wieder auf.

Von Rolf Clement | 23.07.2012
    Der eine kam aus dem Exil, der andere aus der Kriegsgefangenschaft, der eine hat unter den Verhältnissen gelitten, der andere hatte sich gut arrangiert. Jede Familie hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihr eigenes Schicksal. Jochen von Uslar fügt noch ein zusätzliches Spannungselement hinzu: Er entwickelt sehr schnell eine innere Distanz zum Leben in seiner Adelsfamilie. Sein stark autobiografischer Roman ist ein Bericht von innen, von einem, der teilnimmt, aber nicht so recht dazugehört. Er beschreibt das so:

    Dass ich durch Geburt einem weitverzweigten Clan angehörte, wusste ich nicht. Mir fehlten jedes Standesbewusstsein und der Sinn für Geschichte. Ich ahnte nichts von dem Kostüm der Selbstsicherheit und der Kraft des Selbstbewusstseins, das auf einer in die Jahrhunderte zurückführenden Unabhängigkeit, auf Landbesitz und oft auf Geld gründet. Ich war weit davon entfernt, die von früher Kindheit an selbstverständlichen Manieren zu beherrschen. Ich kannte nicht die Codes, in denen man sich verständigt. Ich hatte keine Vorstellung, wie man Überlegenheit kultiviert und gleichzeitig dezent kaschiert, ich hatte nie erfahren, dass Tabus schützen und Attitüden andere ausschließen können. Mir waren die heiteren und liebenswerten Annehmlichkeiten eines beschützten, privilegierten Lebens fremd. Name, Familie, Stand, Tradition, Verpflichtung, Anstand – Begriffe, die mir nicht einmal als Schlagworte, geschweige denn als vorstellbare Werte etwas sagten.

    Und im Kern bleibt der Ich-Erzähler des Romans in der Rolle des Reporters von innen. Er hatte keinen leichten Start auf dem Stammschloss. Jochem von Uslar:

    "Ich war ein Außenseiter in der Familie. Meine Mutter war Schauspielerin, und das ist schon mal suspekt. Mein Vater war im Krieg. Die Flucht hat mich in das Schloss reingespült. Dann habe ich, weil ich gelernt hatte, abzuwarten und erst mal zu gucken, geguckt. Und dann habe ich mich da reinziehen lassen. Und nach Jahrzehnten bin ich dann auch ein Mitglied dieses Clans geworden."

    Aber immer einer mit großen Reserven, jedenfalls im Buch. Die Mutter wurde während der NS-Zeit verhaftet, pflegte dann durch Vermittlung von Freunden des Führers Fotoarchiv, um dann nach dem Krieg wieder als Schauspielerin zu arbeiten. Sie ersparte dem Sohn das Vagabundenleben und ließ ihn eben auf dem Stammschloss in Oberbayern zurück. Der Vater, ein Regisseur, war Soldat, kehrte nach Hause zurück und interessierte sich nicht so richtig für den Sohn - eher für seine wechselnden Frauen - und unternahm Versuche, neue Engagements zu bekommen. Trotzdem hält es der Sohn lange auf dem Schloss aus, immer beobachtend, dabei erkennend, wie in dieser Familie die großen Unterschiede elegant überspielt werden. Er blieb immer innerlich distanziert.

    "Diese Situation nach dem Krieg war einmalig, weil noch mal der Versuch unternommen worden ist – und auch die Not dazu gezwungen hat, zusammen zu kommen. Man hat sich auf die alten Gastfreundschaften und die Verpflichtungen, die daraus entstehen, erinnert. Es kamen ja Menschen an, ohne angemeldet zu sein und blieben Jahre oder Jahrzehnte."

    Und so sieht er alle kommen, viele auch wieder gehen. Er selbst kommt später, während des Studiums draußen in der Welt, die nicht durch die Burgmauern geschützt ist, immer wieder vorbei, die Großmutter, die die Distanz zum Adel spürt, neckt ihn: Du kommst wieder mal zum "baronisieren". Die Oberhäupter der Familie halten eine Fassade aufrecht, sie wahren nach außen den Stand und auch den Dünkel. Aber ist das echtes Selbstbewusstsein? Am Ende bleibt Schloss Berk eine Herrschaftsruine, die mit großem Aufwand hergerichtet werden muss, wenn dort z.B. eine standesgemäße Hochzeit stattfinden soll, zu einer Zeit, da niemand mehr dort wirklich lebt.

    Jochem von Uslar, Kulturdezernent der Stadt Bonn, als diese noch Sitz von Regierung und Parlament war, hat mit diesem Roman zum ersten Mal zur Feder gegriffen. Und das ist ihm gelungen. Er erzählt diese Phase der Familiengeschichte sehr lebhaft, sehr anschaulich und fesselnd – das Buch legt man ungern aus der Hand. Der Autor erweist sich als guter, detailgenauer Beobachter, der es versteht, Menschen und Orte so zu beschreiben, dass man am Ende meint, sie genau kennengelernt zu haben. In den Erinnerungen frischt die Atmosphäre einer versunkenen Zeit wieder auf.

    "In der Toreinfahrt wehte von den Boxen der stechende Dunst der Pferde herüber. Auf der gegenüber liegenden Seite stritten die Aromen von frischem Gras, Heu, Milch und Kuhdung miteinander. Im Hinterhof biss die Silage in die Nase. Von den Schweinekoben her roch es nach gedämpften Futterkartoffeln, aus dem Schafstall heraus nach fetter Wolle. Auf der Tenne kostete ich die Luft des Heus und des aufgeschütteten Getreides. In der Waschküche stank es nach Seifenlauge, feuchten Waschbrettern, Holzbottichen und der kalten Asche unter den Kesseln. In der Remise muffelten die Schmierfette und das Mottenpulver aus den Fußsäcken. Im Park betörten der Geruch von Harz aus den großen Kiefern und Zedern. Über dem Rondell stand ein Hauch der sich öffnenden Rosen. Über dem Rasen duftete es nach frisch geschnittenem Gras, von den Rabatten des Gemüsegartens her nach Schnittlauch, Petersilie, Dill, Thymian, Kerbel, Melisse und Salbei. Die Halle hatte sich ihre durch nichts zu erklärenden Andeutungen von Äpfel und Bienenwachs bewahrt."
    Es ist ein unterhaltsames Buch. Der Spannungsbogen dieser Familiengeschichte nach den unterschiedlichen Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges wird plastisch, atmosphärisch dicht und selbst für Leser, die die Nachkriegszeit nicht erlebt haben, nachvollziehbar erzählt. Nur ein kleiner Wermutstropfen: Das Buch hätte einen besseren Lektor verdient gehabt. Gelegentlich stutzt der Leser angesichts durchaus vermeidbarer Fehler bei Rechtschreibung und Zeichensetzung – oder gar der Wiederholung einer Druckzeile.

    Jochem von Uslar:
    "Tausend Jahre"

    Bouvier Verlag, 184 S., 18,95 Euro