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Telefonüberwachung
Wenn die Staatssicherheit mithörte

Ilko-Sascha Kowalczuk hat sich durch Akten hindurchgearbeitet und eine detaillierte Dokumentation zum grenzüberschreitenden Telefonverkehr der DDR-Opposition in den 80er Jahren vorgelegt. Das Buch zeigt eindrucksvoll, wie umfassend das Ministerium für Staatssicherheit auch schon in analogen Zeiten die Kommunikation überwachte.

Von Henry Bernhard | 13.10.2014
    In einem Bunker sind an einer Wand ein Telefon und mehrere andere elektronische Geräte angebracht.
    Die Nachrichtenzentrale im ehemaligen Stasi-Bunker in Machern bei Leipzig (picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
    Der Rezensent war mitnichten ein Oppositioneller in der DDR. Doch grüßte er immer, wenn er Ende der 80er Jahre vom öffentlichen Fernsprecher auf dem Kasernenhof der NVA telefonierte, alle, die beruflich mithörten. Über das regelmäßige Knacken in der Leitung wurde gescherzt. Kaum jemand ging in der DDR davon aus, dass Telefonieren eine Privatsache sei. Und das mit gutem Grund, meint der Autor des Buches, Ilko-Sascha Kowalczuk:
    "Man musste immer damit rechnen, dass sich jemand immer und überall in die Telefonleitungen in der DDR einschaltet, sprich: die Staatssicherheit. Davon ist ein Großteil der Bevölkerung in der DDR ausgegangen, und davon ist auch die Staatssicherheit selbst ausgegangen; das gehörte gewissermaßen zu ihrer Sicherheitsdoktrin, dass alle sich ständig so verhalten sollten, als wäre die Staatssicherheit überall und jederzeit anwesend. Wir wissen heute, dass das ein selbstgeschaffener Mythos war; kein Geheimdienst, keine Geheimpolizei dieser Welt schafft so etwas. Und das hat auch die Staatssicherheit nicht geschafft."
    "Fasse Dich kurz!" stand an den Telefonzellen, als sich noch Schlangen vor ihnen bildeten; "Fasse Dich kurz!" lautet der euphemistische Titel eines 1.000-Seiten-Brockens, den Kowalczuk gemeinsam mit Arno Polzin herausgegeben hat. Auf gut 250 Seiten beschreiben die fünf Autoren des Sammelbandes, wie die Stasi den grenzüberschreitenden Telefonverkehr der DDR-Opposition in den 80er Jahren überwacht und dokumentiert hat. Auf 750 Seiten sprechen die Dokumente für sich: Abschriften und Zusammenfassungen von Telefonaten, meist zwischen Ost- und Westberlin. Das Buch ist trotz seines Umfangs gut handhabbar. Ilko-Sascha Kowalczuk führt gewohnt souverän und faktengesättigt in das Thema Telefonüberwachung ein, stellt es in einen historischen Kontext und erklärt, welche Rolle die Telefonüberwachung im Überwachungsstaat DDR spielte.
    "Im konkreten Fall der Staatssicherheit muss man sagen, dass die Stasi natürlich auf diese Art und Weise eine Menge Informationen gewonnen hat, aber das waren alles nur ergänzende Informationen zu Dingen, die sie anderweitig sonst auch eingeholt haben. Ihre wichtigste Waffe waren die Inoffiziellen Mitarbeiter - sprich: die Spitzel."
    Wichtiges Kommunikationsmittel der Opposition
    Den Oppositionellen, die nach Antragstellung manchmal absurd kurzfristig einen Telefonanschluss bekamen - die normale Wartezeit betrug über zehn Jahre - war klar, dass ein Telefon in ihrer Wohnung einer Wanze glich. Dennoch machten sich viele frei von der Angst und sprachen offen am Telefon. Mitunter spielten sie gar mit dieser Halböffentlichkeit. Kowalczuk schreibt:
    "Der Wandel der Opposition in den 1980er Jahren hat überhaupt erst das Telefon zu einem wichtigen Kommunikationsmittel gemacht. Dazu bedurfte es der Überzeugung, das politische Handeln als öffentliches zu deklarieren und demzufolge nur noch bestimmte Absprachen wie Druckorte, Druckkapazitäten oder dergleichen verdeckt, im kleinsten Kreis und gerade nicht am Telefon zu kommunizieren. Es ist daher auch kein Zufall, dass die Personen um die Initiative für Frieden und Menschenrechte nicht nur offen westliche Medien für die Darstellung ihrer Ziele, sondern auch das Telefon als offenes Kommunikationsmittel benutzten."
    Ende der 80er Jahre kamen die Stasi-Auswerter kaum noch mit dem Protokollieren der Abhör-Tonbänder nach. Zwar gab es in der DDR genaue gesetzliche Vorschriften, wie und wer mit staatsanwaltlicher Genehmigung abgehört werden darf, 95 Prozent der Telefonüberwachung aber, so schätzt Ilko-Sascha Kowalczuk ein, waren blanker Verfassungsbruch. Und so konnten Telefonmitschnitte vor Gericht auch selten direkt gegen die Oppositionellen verwendet werden.
    Plastische Beschreibungen
    Die enorme Detailkenntnis Kowalczuks ermöglicht ein differenziertes wie anschauliches Bild der oppositionellen Kreise wie auch der gegen sie arbeitenden Stasi. Sehr sinnvoll ergänzt Wolfgang Templin in seinem Kapitel die Innensicht der Opposition, konkret der Initiative für Frieden und Menschenrechte. Templin setzt Erlebtes und Erinnertes ins Verhältnis zu den Abhörprotokollen, beschreibt sehr plastisch, wie sich Menschen verhielten, die unter den Druck der Stasi gerieten. Parallel dazu kann man die hervorragend dokumentierten Protokolle von damals lesen.
    "Stöhnend wirft Ralf Hirsch ein, dass man den Eppelmann nichts alleine machen lassen darf. Ralf Hirsch hat die Vermutung, dass Rainer Eppelmann ‚das Ding in die Kirche ziehen will'. Es fehle nur noch, dass Manfred Stolpe und andere ‚Kirchengrößen' in dem ‚Spiegel'-Artikel erscheinen. Roland Jahn versucht Ralf Hirsch zu beruhigen. Es sei doch gar nicht so einfach, die Medien zu steuern. Ralf Hirsch regt sich besonders auf, dass die ‚taz' schon wieder darüber berichtete, dass die ‚Ostfriedensbewegung' an einer gemeinsamen Initiative arbeite. Für solche Schwatzhaftigkeit könnte er Wolfgang Rüddenklau ‚erschlagen'. Verstockt wirft Hirsch ein, dass die gesamte ‚Umweltbibliothek' ‚unterlaufen bis zum geht nicht mehr' ist. Und gerade dort wird geschwatzt und geschwatzt. Auch und vor allem über Roland Jahn."
    So wird auch eine Geschichte der Opposition erzählt, die in historischen Darstellungen oft zu kurz kommt: Woher kommt das Geld zum Überleben, woher die Druckmaschine? Wie bereitet man sich auf ein Treffen mit West-Politikern vor? Wie soll man mit Ausreisewilligen umgehen? Aus den Dokumenten spricht die protokollierte Gegenwart von damals. Man liest von Missverständnissen, Eifersüchteleien, Zerwürfnissen. Umso höher ist den Abgehörten anzurechnen, dass sie einer Veröffentlichung der Telefonprotokolle nicht im Wege standen.
    Westliche Politiker im großen Stil abgehört
    Weitere Kapitel beleuchten die technische Seite des Abhörens und die Stoßrichtung West. Schließlich wurden im Osten nur Oppositionelle, Kirchenleute, Stasi-Mitarbeiter und Funktionäre mit Westkontakten abgehört; im Westen jedoch interessierte sich die Stasi faktisch für alles. Ilko-Sascha Kowalczuk:
    "Angefangen von Politikern, und zwar nicht nur Bundespolitiker, sondern auch viele Landespolitiker, über Medienanstalten, Zeitungsredaktionen, Universitäten, Wirtschaftsunternehmen, Armee, Polizei - alles, was für den SED-Staat irgendwie von Belang war."
    So beschäftigte die Stasi auch drei Mal so viele Mitarbeiter - nämlich 3.000 - in der Auslandsüberwachung wie in der heimischen Telefonüberwachung. Das Autotelefon des Bundespräsidenten, des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, des Verfassungsschutz-Präsidenten: Überall hörte die Stasi mit. Nun mag man heute einwenden: Erinnert das nicht an die Praxis der NSA? Ilko-Sascha Kowalczuk sieht hier einen grundlegenden Unterschied:
    "Alles, was wir über die Stasi und deren Machenschaften wissen, wissen wir erst seit dem Ende der Staatssicherheit. Alles, was wir über NSA und andere westliche Geheimdienste wissen, wissen wir jetzt bereits zu Zeiten ihrer Existenz. Da muss man erst mal die Kraft der Öffentlichkeit in der freiheitlichen Gesellschaft hervorheben, und das ist ein großer Unterschied. Und das begrenzt dann auch das Tun solcher Dienste. Das Hauptproblem ist, dass wir eigentlich nicht so recht wissen, was NSA und andere Geheimdienste eigentlich mit diesem Wissen tatsächlich anfangen. Für mich steht allerdings fest: Wenn wir unsere freiheitliche Demokratie verteidigen wollen, sind wir auf solche mutigen Leute wie Edward Snowden ganz einfach angewiesen."
    Starker Gesamteindruck
    Mitunter verliert sich das Buch in technischen Details, die sich dem Laien nicht erschließen und nur für das Verständnis der technischen Aspekte der Überwachung nötig sind, nicht aber für das Politisch-Historische. Der Gesamteindruck aber ist ein starker: "Fasse Dich kurz" ist ein Standardwerk über die Telefon-Überwachung im SED-Staat. Die 1.000 Seiten müssen nicht abschrecken, denn die einzelnen Kapitel und auch die Abhörprotokolle stehen jeweils für sich. Und auch, wenn die Stasi-Prosa gewohnt sperrig und dröge ist: Gelegentlich gibt es auch Situationskomik:
    "Roland Jahn aus Westberlin nimmt Kontakt zu Bärbel Bohley auf. Bei Bärbel Bohley halten sich weitere Personen auf. Sie feiern den Geburtstag von Wolfgang Templin. Alle Personen erwecken den Anschein, dass sie nicht mehr nüchtern sind."
    Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.) und Arno Polzin (Hg.): Fasse Dich kurz! Der grenzüberschreitende Telefonverkehr der Opposition in den 1980er Jahren und das Ministerium für Staatssicherheit,
    Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1073 Seiten, 69,99 Euro
    ISBN: 978-3-525-35115-4