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Telemedizin
High-Tech für die Rettungshilfe

Bis ein Notarzt an einem Unfallort eintrifft, sind meistens schon Sanitäter vor Ort. Für deren Unterstützung hat eine Forschungsgruppe an der RWTH Aachen eine Datenbrille mitentwickelt: Über die könnten künftig Anweisungen abgerufen und ein Telemediziner zugeschaltet werden. Aber noch ist die Brille nicht praxistauglich.

Von Nina Rink | 21.08.2017
    Ein Rettungswagen fährt nach einem schweren Verkehrsunfall in Herne am 30.07.2016 auf der Autobahn A42, Emscherschnellweg, durch eine Rettungsgasse.
    Aktuell dauert die Erstsichtung von Verletzten mit Datenbrille noch etwa 20 Sekunden länger als ohne. (Imago / Jürgen Schwarz)
    Nach einem Zugunglück oder einer Massenkarambolage auf der Autobahn herrscht erst einmal Chaos. Trümmerteile liegen herum, es gibt zahlreiche Verletzte, vielleicht sogar Tote. Bis der leitende Notarzt vor Ort ist, kann es dauern - die eintreffenden Rettungskräfte, müssen sich zu allererst einen Überblick verschaffen: Wer braucht am schnellsten Hilfe? Bei der Erstsichtung, auch Triage genannt, werden die Patienten zunächst in drei Kategorien eingeteilt.
    "Das eine ist die rote Sichtungskategorie, das heißt, der Patient braucht direkte Hilfe - es gibt die gelbe Sichtungskategorie, das kann, ja eine verzögerte Hilfe sein, und es gibt die grüne Kategorie, diese Patienten brauchen normalerweise keine Hilfe, sondern stehen vielleicht unter Schock, können aber laufen und brauchen keine direkte medizinische Behandlung."
    Datenbrille soll bei Rettung helfen
    Alexander Paulus ist zwar kein Notfall-Mediziner, aber er kennt das Szenario gut. Es ist die Ausgangslage für das Forschungsprojekt AUDIME. Paulus ist Informatiker an der RWTH Aachen und leitet das Projekt. Sein Ziel: Rettungskräfte im Katastrophenfall mit High-Tech unterstützen. Dazu hat er mit Kooperationspartnern eine Datenbrille programmiert.
    Auf den ersten Blick wirkt sie wie eine gewöhnliche Fahrradbrille. Doch unten am rechten Glas sitzt eine Kamera. Auf der Innenseite sieht der Retter ein kleines Display. Hier werden ihm Fragen angezeigt. Atmet der Patient? Ist er bei Bewusstsein? Durch eine Wischbewegung über den Bügel antwortet er mit "Ja" oder "Nein". Anhand der Antworten wird mit einem Algorithmus die Sichtungskategorie ermittelt - grün, gelb oder rot - und der Patient bekommt dann die passende Triage-Karte angehängt.
    Das Problem der Ersthelfer: "Gerade im Bereich des niedrig qualifizierten Personals ist es natürlich so, dass meistens die Erfahrung fehlt, eine qualifizierte Entscheidung zu treffen - da ist die telemedizinische Unterstützung auf jeden Fall erstrebenswert."
    Frühere Studien besagen, dass jede fünfte Sichtung zu einem falschen Ergebnis kommt. Eine Fehleinschätzung, die im Zweifel über Leben und Tod entscheidet. Hier kommt der Tele-Notarzt ins Spiel. Er kann per Videostream live zugeschaltet werden. Durch die Datenbrille sieht er auf seinem Monitor die gleiche Situation wie die Helfer vor Ort. Und kann sie beraten, wenn sie unsicher sind. Bei den bisherigen Übungen fiel die Resonanz der Rettungskräfte positiv aus, berichtet Paulus.
    "Also auf der einen Seite haben wir sehr gute Rückmeldungen von denjenigen bekommen, die diese telemedizinische Unterstützung genießen durften. Das waren immer so zwei oder drei pro Übung. Und die waren sehr, sehr positiv davon überrascht, wie viel dann auch noch mal ein paar Augen, die dann drauf gucken und noch einmal wesentlich mehr Erfahrung haben, dann doch für den Sichtungsprozess machen können."
    Katastrophensituation soll für nachrückende Kräfte übersichtlicher werden
    Aktuell dauert die Erstsichtung mit Datenbrille noch etwa 20 Sekunden länger als ohne. Mit mehr Routine soll das System aber langfristig helfen, Fehler zu reduzieren und die Behandlung zu verbessern. Dafür sammelt die Datenbrille viele Informationen. Die Triage-Karte wird fotografisch erfasst und mit einem GPS-Tag versehen. Standorte der verfügbaren Rettungsfahrzeuge und Behandlungsplätze können markiert werden. Nachrückende Rettungskräfte haben dadurch schon vor ihrer Ankunft ein Gesamtbild der Situation. Und der Einsatzleiter kann schon auf dem Weg zum Unglücksort Entscheidungen treffen.
    "Der Vorteil daraus erschließt sich natürlich direkt, denn man hat direkt dann eine Übersicht, wie viel Patienten sind denn vor Ort? Wie ist das Gelände aufgebaut? Und vor allem: Wie viel Kräfte muss ich noch nachschicken."
    Die Daten werden in Echtzeit übertragen, analysiert und aufbereitet. Von unterwegs aus können sie dann zum Beispiel auf dem Tablet oder Smartphone abgerufen werden. Die Helfer können über die Brillen auch direkt kommunizieren. Paulus und sein Team haben dafür eine eigene Kommunikations-Infrastruktur entwickelt. In der Testphase lief die Kommunikation über WLAN. Geplant ist aber eine Übertragung über speziell verschlüsselte Netze, denn die Patientendaten sind höchst sensibel:
    "Also generell beim Datenschutz bei medizinischen Daten ist es halt so, dass diese Daten sehr, sehr streng gesichert sein müssen. Im Moment ist das halt prototypisch noch nicht umsetzbar. Aber das muss auf jeden Fall noch realisiert werden, bevor dieses System dann mal irgendwann mal in den Produktiveinsatz geht."
    Noch nicht reif für die Praxis
    Ein weiteres Problem ist, dass eigentlich jeder Patient seine Zustimmung geben müsste, bevor er mit der Brille gefilmt werden darf. Im Notfall wäre das aber kaum umsetzbar. Auch wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen noch unklar sind, hofft Alexander Paulus jetzt auf ein Folge-Projekt, in dem die Technologie praktisch erprobt werden kann. Um wirklich reif für die Praxis zu sein, müsste die Bildqualität der Kamera in den Datenbrillen allerdings noch steigen und vor allem - ihr Preis sinken.