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"Tempel" auf ZDFneo
Der Kiez brennt

ZDFneo versucht sich zum ersten Mal an einer Dramaserie. "Tempel" spielt in Berlin-Wedding zwischen Gentrifizierung und Unterwelt. Die Serie zeigt schaurig-schöne Szenen in Boxring und Bordell. Aber reicht das, um an die Gewichtsklasse amerikanischer Produktionen heranzukommen?

Von Julian Ignatowitsch | 28.11.2016
    Mark Tempel (Ken Duken) will seine Familie retten
    Mark Tempel (Ken Duken) will seine Familie retten (ZDF / Christian Stangassinger)
    Chronik zweier Hausbesuche: Während Altenpfleger Mark Tempel einer Patientin ihr Morphiumpflaster verabreicht, ist eine Gang schwarz vermummter Schläger auf dem Weg zu ihm in die Wohnung und haut dort angekommen ordentlich auf den Putz.
    Hier lächelt die alte Frau selig, dort gehen ein, zwei, drei Lampen zu Bruch und im Hintergrund singt Frankie Valli. Diese Parallelmontage zeigt gleich zu Beginn, was die ZDF neo-Serie "Tempel" besonders gut kann: Das Abgründige mit dem Absurd-Komischen verbinden, gewalttätige Bilder ästhetisieren. Plötzlich bricht die Platte abrupt ab:
    "Du sollst die Schnauze halten - Sonst was? Schlägst du mich zum Krüppel."
    Gentrifizierung droht Kiez zu zerstören
    Die Realität: Der Familienfrieden brüchig, das Zuhause der Tempels im Berliner Wedding zerstört. Mark Tempel und seine Frau Sandra, die im Rollstuhl sitzt, haben wenig Geld, keinen Sex, dafür eine 16jährige schwangere Tochter. Und dann droht ihnen auch noch das Letzte verloren zu gehen, was sie zusammenhält: ihr Kiez. Die Gentrifizierung in Berlin, ein bekanntes Thema. Wohlhabende Familien und Investoren setzen alles daran, lästige Altmieter loszuwerden.
    "Der Kiez ist wegsaniert, guck dich doch um. Nur noch diese arschlosen, körnerfressenden Yoga-Fotzen."
    In dieser sowieso schon düsteren Situation holt den Familienvater Tempel seine noch düsterere Vergangenheit ein: ein kriminelles Milieu zwischen Boxstudio und Bordell rund um den glatzköpfigen Kiez-Paten Jakob. Tempel steigt aus Geldnot wieder in den Ring. Er gewinnt und ist plötzlich mittendrin in einem Leben voller Gewalt, Drogen, Prostituierten und den blutigen Machtkämpfen der Immobilien-Mafia.
    "Wir sollen vertrieben werden für neue Schicki-Micki-Wohnungen in Citylage. - Aber nicht von ihm. Deswegen soll er uns sagen, wer ihn geschickt hat."
    Mal wie ein abgründiger Film Noir aus den 60er Jahren, dann wie modernes Actionkino, die Serie "Tempel" trägt dick auf. Stilistisch, bei den Einstellungen und Schnitten, und in der Mise-en-Scène, bei Kostüm und Kulisse, funktioniert das. Wenn der Hauptcharakter fast liebevoll eine Leiche badet oder seinen Gegenspieler zum Showdown am Frühstückstisch mit frischen Brötchen empfängt, sind das schaurig-schöne Szenen.
    Übertreibungen führen oft ins Leere
    Aber inhaltlich führen diese Übertreibungen, diese geballte Ladung von Frust und Gewalt zu oft ins Leere und bringen teilweise klischeehafte Charaktere und Plotwendungen hervor, wo differenzierte und tiefgründige Auseinandersetzung gefragt gewesen wäre. Die Serie kratzt meistens nur an der Oberfläche. Das mag auch daran liegen, dass sie zu viele Problemthemen zusammenwirft: Gentrifizierung, Drogenhandel, Prostitution, Armut, Sterbehilfe, Korruption, Abtreibung, soziale Ungleichheit. Die vielen gesellschaftskritischen Aspekte lenken von der Familiengeschichte ab, die "Tempel" eigentlich erzählen will.
    "Schwach ist unsexy, so sind unsere Gene. Jutta kennt da eine Sexualtherapeutin - Hör auf!"
    Die Motivation der Figuren bleibt deshalb stellenweise unklar. Und man fragt sich, was den Vater überhaupt bei seiner querschnittsgelähmten Frau und seiner Tochter hält? Die Schwächen im Drehbuch können durch Regie, Schauspieler und Soundtrack aber größtenteils aufgefangen werden. Ken Duken spielt den zerrissenen Familienvater facettenreich, mal hart, mal einfühlsam. Chiara Schoras als Ehefrau Sandra oder Thomas Thieme als Zuhälter Jakob überzeugen. Und Regisseur Philipp Leinemann erzeugt den einen oder anderen Moment, der an große Filmklassiker erinnert: Wie die Schlägerszene alla "Clockwork Orange" oder der Boxkampf im Stile von "Raging Bull".
    Spannender Cliffhanger zum Schluss der Serie
    Nach sechs halbstündigen Episoden wartet am Schluss ein krachender Cliffhanger, der mal wieder neue Fragen und Themen aufwirft. Positiv gesehen könnte eine Fortsetzung viele liegengebliebene Subplots zu Ende führen und den Figuren zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen. Denn das ist "Tempel" ja zweifellos: Ein ambitionierter, erfrischender Versuch für eine deutsche Serie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Abgründe am Puls der Zeit aufreißt.